Heute kann nahezu jeder öffentliche Service in Estland online erledigt werden. Nur für eine Heirat, Scheidung sowie einen Hauskauf und -verkauf muss man (noch) aufs Amt. Das ermöglicht vollkommen neue Services und spart Bürgern und Staat Zeit und Geld.
Estlands digitale Entwicklung begann 1990 mit der Loslösung des Landes von der Sowjetunion – ohne eine eigene öffentliche Verwaltung oder eine funktionierende Privatwirtschaft standen damals alle Zeichen auf Neubeginn. Schon während der Sowjetzeit waren die Esten europäisch geprägt – sie konnten beispielsweise finnisches Fernsehen und internationales Radio empfangen.
Die Planwirtschaft hatte indessen ganze Arbeit geleistet: Toomas Hendrik Ilves, der estnische Präsident von 2006 bis 2016, beschrieb die Situation seines Landes in einem Interview[1] so: „1993 hatte Estland ein Telefonsystem von 1938.“ Das Angebot Finnlands, die dortige Infrastruktur nach Estland zu erweitern, lehnte Tallinn ab. Die Regierung entschied sich dafür, eine komplett neue Infrastruktur aufzubauen, mit Unterstützung der Banken und Telefonkonzerne.
Ilves ist eine Schlüsselfigur beim digitalen Aufbau des Landes. Er wuchs als Flüchtling in den USA auf und brachte sich dort im Alter von dreizehn Jahren selbständig das Programmieren bei. Er erkannte schon früh die Vorteile, die die Automatisierung für das kleine Land bringen würde. 2013 erklärte er gegenüber der britischen Rundfunkanstalt BBC: „Wir müssen auf die Digitalisierung setzen, in jedem Bereich, nur so können wir unser Potenzial voll ausschöpfen.“[2]
Im Jahr 1996 startete Ilves das Tiigrihüpe-Programm (zu Deutsch: Tigersprung-Programm), um Estland mit einer modernen Computer- und Netzwerkinfrastruktur auszustatten und in Schulen sowie Universitäten für die notwendige Aus- und Weiterbildung zu sorgen. Heute findet sich diese Initiative im staatlich finanzierten Programm ProgeTiger wieder, mit dem Lehrer das Programmieren lernen können, um es dann ihren Schülern beizubringen.
Estland hat innerhalb von 20 Jahren eine digitale öffentliche Verwaltung geschaffen, die weltweit als Vorbild dient. Doch Estland wurde nicht über Nacht zum digitalen Musterknaben. Stück für Stück wurden digitale Dienstleistungen geschaffen und so eine Alternative zu den bestehenden analogen Behördenwegen angeboten. Ohne das Vertrauen der Bürger, die Beharrlichkeit der Politik und eine konsequente digitale Weiterbildung der Bevölkerung, wäre dieses Vorhaben nicht gelungen. Es brauchte Zeit, bis diese Mischung zum Erfolg führte. In den ersten Jahren der digitalen Verwaltung (2003 – 2006) fanden die neuen Services keine große Akzeptanz. Im Laufe der Zeit wurden digitale Dienstleistungen immer beliebter. Erst ab einer gewissen Größe des Netzwerks an Dienstleistern (knapp 50 Behörden und Unternehmen) entfaltet das estnische Modell sein volles Potenzial. Je mehr öffentliche und private Anbieter teilnehmen, umso vielseitiger werden die Dienstleistungen, die sich für den Nutzer ergeben.
Wie sich das Land ohne diesen visionären Schachzug entwickelt hätte, ist schwer zu sagen. Estland musste nach seiner Unabhängigkeit bei null beginnen, eine umfassende und funktionierende analoge Verwaltung gab es nie. Schätzungen der Weltbank zufolge sparen sich die Esten jährlich 2,8 Millionen Stunden Verwaltungsaufwand durch die digitale Verwaltung. Das entspricht der Vollzeitarbeit von 1.346 Personen pro Jahr. [3] Sicher ist, dass die digitalen Dienstleistungen das Leben jedes Bürgers einfacher machen und ihm die Hoheit über seine persönlichen Daten zurückgeben.
Immer mehr Esten nutzen die digitalen Services regelmäßig. Die beliebtesten Dienstleistungen stellen wir im Folgenden vor:
🇪🇪 Seit 2000 kann man in Estland seine Steuererklärung digital einreichen. Dieser Service zählt zu den beliebtesten des Landes. Über 97 Prozent aller Steuererklärungen in Estland werden heute online verabschiedet. Im Jahr 2002 erreichte die digitale Steuererklärung einen weiteren Meilenstein. Mit der sogenannten e-ID kann sich jeder Nutzer einloggen und erhält eine individuell vorgefertigte Steuererklärung. Er kann diese überprüfen, gegebenenfalls Änderungen vornehmen und das Dokument letztlich mit seiner digitalen Signatur absenden. Im Schnitt dauert es drei bis fünf Minuten, um diesen Vorgang durchzuführen. Das spart nicht nur Zeit (und Nerven) für die Steuerzahler, sondern entlastet auch die Behörden: In durchschnittlich nur fünf Tagen trifft eine eventuelle Steuerrückzahlung beim Bürger ein. Ebenso schließt der Service die digitale Steuererklärung für Unternehmer und alle Beschäftigten ein. Zoll- und Warensteuern können ebenfalls berücksichtigt werden.[4]
🇦🇹 Die Steuererklärung kann auch in Österreich online ausgefüllt werden. Ein automatischer Abgleich mit anderen Behörden auf Wunsch des Bürgers ist nicht möglich.
🇪🇪 Estland hat ein digitales Unternehmensregister. Über dieses können in Echtzeit Informationen zu allen in Estland registrierten Firmen eingesehen werden. Das digitale Unternehmensregister unterhält auch ein Portal zur Registrierung von Unternehmen. Dort können Unternehmensgründer Anträge oder Jahresberichte in das Unternehmensregister hochladen. Dokumente können mit einer digitalen Signatur unterschrieben werden. Das digitale Unternehmensregister erspart der estnischen Bürokratie viel Zeit und Geld. In Estland dauert es im Schnitt 18 Minuten, ein Unternehmen zu registrieren; im Gegensatz zu 3,5 Tagen auf traditionellem Weg, der nach wie vor existiert. Ebenso enthält das Portal eine web-basierte Buchhaltungssoftware, die sich mit den bestehenden Steuerdaten verbinden lässt und gerade Start-ups und kleinen Unternehmen das Leben leichter macht.[5]
🇦🇹 Über das Unternehmensserviceportal können Unternehmen in Österreich digital gegründet werden. Eine digitale Buchhaltung und Verwaltung ist nicht möglich. Laut Weltbank benötigt man in Österreich im Durchschnitt 21 Tage für die Gründung eines Unternehmens. [6]
Fußnoten
Chancen und Risiken des digitalen Zeitalters
Zeiten großen technologischen Wandels sind Zeiten großer Verunsicherung. Dies gilt auch für die Digitalisierung. Wir Menschen fürchten uns vor Massenarbeitslosigkeit und hyperintelligenten Maschinen, die unser Leben bestimmen. Technologischer Wandel bringt aber auch enorme Möglichkeiten und Chancen, die von der Angst vor Veränderung verdeckt
Die Arbeitswelt von morgen (und übermorgen)
Die Digitalisierung macht vielen Menschen Angst. Ein Großteil hat Sorge, durch neue Technologien den Job zu verlieren. Ein seriöser Blick auf die Zukunft der Arbeit zeigt aber, dass jede technologische Revolution neue, zusätzliche Arbeitsplätze hervorgebracht hat. Welche Veränderungen uns erwarten – und warum diese keineswegs nur negativ sei
Was Österreich von Estlands digitaler Verwaltung lernen kann
Viele Staaten stehen dem Wunsch des Bürgers nach zeitgemäßen Dienstleistungen ratlos gegenüber. Estland, ein kleines Land im Baltikum, hat vorgemacht, wie digitale Verwaltung aussehen kann.
Raus aus der Kreidezeit – neu denken lernen
Neue Technologien erfordern und ermöglichen ein neues Denken. Daraus ergeben sich auch neue Wege in der Bildung. Es wird Zeit, dass wir uns auf die Reise machen.
Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
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