Wer braucht schon die Mitte?
- 29.01.2023
- Lesezeit ca. 4 min
Die Mitte macht den Unterschied
In der öffentlichen Debatte und in der Wirtschaftspolitik ist sehr oft von „den Reichen“ und „den Armen“ die Rede. Die breite Gruppe zwischen diesen Extremen kommt deutlich seltener zur Sprache. Dabei ist es vor allem die Mittelschicht, die den Wohlstand im Land trägt. Die wirtschaftliche Entwicklung hängt wesentlich davon ab, wie gut oder schlecht es der Mitte geht, wie groß oder klein sie ist, wie schwer oder leicht sie ihren Lebensstandard absichern kann. Diese Studie untersucht den Zustand der Mittelschicht in Österreich. Und eines gleich vorweg: Der Mitte geht es besser, als oft behauptet wird – und auch besser als in vielen anderen Ländern. Damit Österreich auch in Zukunft ein Land der Mitte bleibt, müssen jetzt die Weichen gestellt werden. Denn der Druck auf die Mitte ist derzeit besonders groß.
Mit der Aufklärung und dem Ende der Feudalherrschaft etablierte sich in Europa eine neue Bevölkerungsgruppe: das Bürgertum. Die Bürger mussten nicht mehr die für sie getroffenen Entscheidungen hinnehmen, sie hatten plötzlich das Recht, selbst zu entscheiden. Sie konnten ihre soziale Stellung durch wirtschaftlichen Erfolg verbessern, statt einfach akzeptieren zu müssen, in welche Klasse sie zufällig hineingeboren worden waren. Diese neu entstandene Mittelschicht brachte Wohlstand und soziale Absicherung für weite Teile der Gesellschaft. Aufstieg durch Anstrengung und Eigenleistung war – ganz im Sinne des Sozialwissenschaftlers Max Weber – möglich geworden.[1] Die Mitte ist heute für viele Menschen ein Ideal, dem sie sich gern zuordnen. Rund 80 Prozent der Österreicher – und damit deutlich mehr als der Durchschnitt der Industriestaaten (rund 65 Prozent) – sehen sich selbst in der Mittelschicht.[2]
Eine breite Mittelschicht erhöht die soziale Mobilität, da auch die Einkommensunterschiede klein sind und der Wechsel von einer Einkommensgruppe in die nächste leichter fällt.[3] Dies hat wiederum Auswirkungen darauf, ob die Bürger ihr Gemeinwesen als fair empfinden. Eine Gesellschaft mit hoher sozialer Mobilität wird als gerecht erachtet, weil der Aufstieg aus eigener Kraft und Anstrengung erreicht werden kann. Starre Gesellschaften, in denen Menschen unabhängig von ihrer Leistung in einer Einkommensklasse verharren oder der soziale Status über Generationen „vererbt“ wird, gelten hingegen als unfair.
Auch für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sind soziale Mobilität und eine breite Verteilung der Einkommen enorm wichtig.[4] Ein größerer Einkommensanteil der Mittelschicht geht häufig mit einem höheren Wirtschaftswachstum einher.[5] Menschen aus der Mitte investieren typischerweise mehr Geld in ihre Bildung als Menschen mit geringerem Einkommen.[6] Sie sind deshalb eine wichtige Säule für eine Volkswirtschaft, deren Erfolg auf Innovation, gut ausgebildeten Fachkräften und Unternehmertum basiert.[7] Die Mitte hat sich als stabilisierender und treibender Faktor der wirtschaftlichen Aktivität in einem Land etabliert.[8] So zeigte sich auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise nach 2008, dass die Einkommensverluste in der Mittelschicht geringer waren als in der Unter- oder Oberschicht.[9]
Die Gefahren für die Mitte
In einer groß angelegten Studie im Jahr 2019 kam die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zu dem Schluss, dass die Einkommen der Mittelschicht langsamer wachsen würden und sich viele Angehörige dieser Gruppe sozial abgehängt fühlten.[10] Daniel Goffart, leitender Redakteur beim deutschen Nachrichtenmagazin Focus, ging noch einen Schritt weiter und konstatierte in seinem gleichnamigen Buch „das Ende der Mittelschicht“.[11] Tatsächlich hat eine wachsende Zahl von Menschen das Gefühl, dass die Mitte der Gesellschaft immer weiter erodiert. Vor allem gilt das in den USA, aber nicht nur dort. Laut OECD haben 60 Prozent der Eltern die Sorge, dass ihre Kinder nicht den gleichen Lebensstandard erreichen werden wie sie.[12] In Ländern wie Österreich, Frankreich, Griechenland, Italien oder Slowenien sehen das sogar sieben von zehn Eltern so.
Fußnoten
- Vgl. Weber (1930). ↩
- Vgl. OECD (2019). ↩
- Vgl. OECD (2018). ↩
- Vgl. Banerjee & Duflo (200 ↩
- Vgl. Ozturk (2016). ↩
- Vgl. Brücker et al. (2018), Chun et al. (2011). ↩
- Vgl. Doepke & Zilibotti (2005). ↩
- Vgl. Murphy et al. (1989). ↩
- Vgl. OECD (2019). ↩
- Vgl. OECD (2019). ↩
- Goffart (2021). ↩
- Vgl. OECD (2018). ↩
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