Der Mangel an Demokratie
- 28.11.2016
- Lesezeit ca. 2 min
Warum Österreich wichtige Reformen verschläft
Index
- Vorwort
- Einleitung
- » Der Mangel an Demokratie
- Der Parteienstaat
- Die Teile sind stärker als das Ganze
- Föderalismus wie vor 90 Jahren
- 2.100 Gemeinden und 2.100 Raumordnungen
- Gesundheit – gut und teuer
- Der Staat der Alten
- Die eigenartige Medienlandschaft
- Ein politisches System voller Fehlsteuerungen
- Die Überwindung des Stillstands
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Österreich ist ein demokratischer Rechtsstaat. Daran besteht kein Zweifel. Aber die repräsentative Demokratie österreichischer Prägung hat sich nicht weiterentwickelt. Die Wähler sind besser informiert als je zuvor, sie sind wacher und kritischer, sie wollen mitgestalten.
Dem stehen das starre österreichische Listenwahlrecht und unwirksame Instrumente direkter Demokratie gegenüber. Die Macht ist bei den politischen Parteien und deren Funktionären, denen die Bürger ohnmächtig gegenüberstehen.
Das österreichische Wahlrecht ist mehr auf die Bedürfnisse der Parteien als auf die der Bürger und Wähler zugeschnitten. Der Wähler hat einmal alle fünf Jahre die Möglichkeit, sich für eine der wahlwerbenden Parteien auszusprechen. Wer aber in den Nationalrat einzieht, darüber entscheiden die Parteivorstände in den Ländern und auf Bundesebene, von denen die Kandidatenlisten erstellt werden. Elemente des Persönlichkeitswahlrechts sind so schwach ausgeprägt, dass sie in der politischen Praxis kaum wirk- sam werden. Persönlichkeitswahlrecht stärkt den Einfluss der Bürger und schwächt den der Parteifunktionäre. Es stärkt den einzelnen Abgeordneten und schwächt den Parteiapparat.
Die Kandidatenlisten werden in der ÖVP nach dem Proporz ihrer Teilorganisationen erstellt, in der SPÖ dominieren Gewerkschaftsfunktionäre. Kandidaten außerhalb dieser geschlossenen Zirkel haben wenig Chance, an wählbarer Stelle nominiert zu werden. Entscheidende Qualifikation ist die Loyalität zur Partei, die Bereitschaft sich unterzuordnen. Parteiobmann und Parteivorstand geben die Richtung vor, die Abgeordneten sind an der Willensbildung kaum beteiligt. Sie ordnen sich unter. Ein Abgeordneter der Volkspartei hat das in der Ära Schüssel auf den Punkt gebracht: „Hände falten, Goschen halten.”
Ein Paradebeispiel für die österreichische Top-down-Demokratie war die Kehrtwende der SPÖ zum Thema Bundesheer. Das Bekenntnis zur Wehrpflicht gehörte zu den unumstrittenen Grundsätzen der österreichischen Sozialdemokratie. Aus wahltaktischen Gründen forderte der mächtigste Mann in der Partei, der Wiener Bürgermeister, kurz vor einer Gemeinderatswahl eine Kehrtwendung hin zum Berufsheer. Die Parteispitze folgte ihm und sprach sich für ein Berufsheer aus. Die Parteiführung unternahm nicht einmal den Versuch, Mitglieder und Funktionäre zu informieren und zu überzeugen. Die Basis der Partei erfuhr aus den Medien, dass über Nacht alles anders war. Viele Parteifunktionäre fühlten sich entmündigt und übergangen. Viele Parteimitglieder stellten sich die Frage, ob sie da unten von denen da oben in irgendeiner Form ernst genommen werden. Es mag sein, dass das Berufsheer die richtige Lösung für die Gegenwart ist und die Entscheidung der SPÖ in der Sache daher richtig war. Demokratiepolitisch war die Entmündigung einer großen Partei durch einige wenige Spitzenfunktionäre wohl ein gewichtiger Beitrag zum Vertrauensverlust von Wählern in politische Parteien. Nach der Volksbefragung zum Thema Bundesheer versprachen beide Regierungsparteien, die finanzielle Aushungerung des Bundesheers zu beenden und dem Heer zumindest jene Mittel zur Verfügung zu stellen, die es ihm erlauben, die Präsenzdiener sinnvoll zu beschäftigen. Die Einhaltung dieses Versprechens hätte eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets erfordert. Wenige Monate nach der Volksbefragung war das Versprechen vergessen, die Mittel für das Heer wurden weiter gekürzt. Die Glaubwürdigkeit der Politik blieb auf der Strecke.
Erhard Busek sprach vor vielen Jahren in einem seiner Bücher vom „Mut zum aufrechten Gang”. Diese Eigenschaft ist Mangelware in der österreichischen Parteienlandschaft. Weil es die Mächtigen in der Partei sind, die über Kandidatenlisten entscheiden, legt man sich nicht mit ihnen an. Man will ja im politischen Geschäft bleiben und weitere Kandidaturen nicht gefährden. Ich habe es mehr als einmal erlebt, dass Vorschläge eines Parteiobmanns im Parteivorstand einstimmig und mit starkem Beifall beschlossen wurden. Nach der Sitzung bezeichneten dieselben Vorstandsmitglieder den Vorschlag als Unfug und direkten Weg zur nächsten Wahlniederlage.
Der Umgang der politischen Parteien mit Elementen der direkten Demokratie zeigt, wie wenig sie davon halten. Das von Hannes Androsch initiierte Bildungsvolksbegehren enthielt einen schlüssigen Vorschlag für eine fundamentale Veränderung und Verbesserung des österreichischen Bildungssystems. Es fand breite Unterstützung in der Bevölkerung und bei Institutionen wie der Industriellenvereinigung. Den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP war es nicht mehr als eine kurze Beratung im zuständigen Ausschuss des Nationalrats wert. Dann wurde es dem Archiv einverleibt. Der kritische und mündige Bürger versteht die Botschaft der Parteien: “Störe unsere Kreise nicht. Es sind einige wenige Spitzenfunktionäre der politischen Parteien, die Österreich regieren. Die Mitwirkung der Bürger im Wege der direkten Demokratie ist nicht erwünscht.”
Es gibt keine längerfristige Strategie in der österreichischen Politik, weil sich die Politik an Meinungsumfragen und an Boulevardmedien orientiert. Beide sind von Stimmungen in der Bevölkerung abhängig und ändern sich kurzfristig. Viele Politiker glauben, ihnen gehöre der Augenblick. In Wirklichkeit gehören sie dem Augenblick. Es fehlt an Lernfähigkeit in der österreichischen Politik. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals Erfolgsmodelle aus anderen Ländern übernommen wurden. Und es fehlt an einer starken und überzeugenden Legitimation der Regierenden. Die wichtigen Entscheidungen werden weniger von den Regierenden als vielmehr von starken Persönlichkeiten in Ländern und Interessenvertretungen beeinflusst, denen aber dazu der Wählerauftrag fehlt. (Dieses Phänomen wird im Abschnitt “Die Teile sind stärker als das Ganze” näher beschrieben.)
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