Europa soll nicht die Welt retten, sondern einmal sich selbst
- 02.10.2022
- Lesezeit ca. 4 min
Es ist nicht lange her, dass Europa zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt aufsteigen wollte. Heute liegt das Schicksal der EU in den Händen anderer.
Nie war der Stoff der alten James-Bond-Filme näher an der Realität als heute. Mit dem feinen Unterschied, dass nicht ein geheimnisvoller Dr. No oder ein schlitzohriger Goldfinger mehrere Gaspipelines in der Ostsee gesprengt haben dürfte, sondern ein knallhart operierender Staat, dem wir bis vor kurzem noch unsere Energieversorgung anvertraut haben. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass viele die Nutzung der Kernenergie energisch ablehnen, „Fracking“ für ein ökologisches Kapitalverbrechen halten, keine Hochspannungsleitungen im Land sehen wollen, sich an den Geräuschen von Windrädern stoßen und den Lebensraum der Zauneidechse für wichtiger halten als eine stabile Energieversorgung. Günstige Gaspreise waren der geschickt ausgelegte Köder, den wir dankbar geschluckt haben. Jetzt sitzen wir in der Gasfalle und müssen auf mildes Wetter hoffen, um irgendwie über den nächsten Winter zu kommen. Was danach kommt, weiß niemand.
Überhaupt scheinen wir Europäer derzeit nicht die allerbesten Karten in den Händen zu halten. Die Europäische Union ist zwar noch immer der reichste, sozialste und wohl auch klimafreundlichste Wirtschaftsraum der Welt. Gleichzeitig aber auch jener, dessen Schicksal auffallend stark von den Launen anderer abhängt. Wir haben uns nicht nur mit Haut und Haaren den Russen ausgeliefert, wir haben auch nicht die Kraft, uns selbst zu verteidigen. Wir Europäer sind nicht in der Lage, unsere Außengrenzen zu schützen, und wir haben uns einer gemeinsamen Währung verschrieben, die von der politischen Gemütslage eines einzigen großen Mitgliedslandes abhängt.
Während wir die Türkei dafür bezahlen müssen, dass sie Millionen Flüchtlinge davon abhält, die Reise nach Europa anzutreten, zittern wir vor der frisch gewählten Regierung Italiens. Und das völlig zu Recht. Das Land wird nicht nur von einer europafeindlichen Regierung geführt, es ist nach den USA und Japan auch der drittgrößte Emittent von Staatsanleihen weltweit. Geht in Italien etwas schief, löste das auf den internationalen Kapitalmärkten ein gröberes Erdbeben aus. Schon gemäßigte Regierungen Roms wussten das finanzpolitische Gewicht ihres Landes zu kapitalisieren. Die Strategie war denkbar einfach: „Geld her, oder wir treten aus der Währungsunion aus“. Nun wissen alle in Europa, dass der Schutzschirm, der die europäischen Banken in diesem Fall auffangen müsste, noch nicht erfunden wurde. Statt das mit 145 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldete Land mit Reformen auf Vordermann zu bringen, fließt das billige Geld seit Jahren in Strömen Richtung Süden. Nicht Deutschland bestimmt den Kurs der europäischen Geldpolitik, sondern Italien.
Das alles passt zum trüben Herbstwetter. Während sich letzteres wieder verziehen wird, werden unsere Probleme bleiben, bis wir sie gelöst haben. Vielleicht wäre es ein guter Start, wenn Europa sich vornähme, es in Zukunft ein wenig billiger zu geben. Wir müssen den weltweiten Temperaturanstieg nicht im Alleingang stoppen, sondern dafür sorgen, dass die Bevölkerung zuverlässig mit möglichst sauberer und günstiger Energie versorgt wird. Wir Europäer sollten erkennen, dass wir nicht nur von netten Menschen umgeben sind, die unser Wertsystem lieber heute als morgen übernehmen wollen. Wir sind auch nicht imstande, das gesamte Leid der Welt zu lindern. Vielmehr können wir einem Teil jener Menschen helfen, die in ihren Heimatländern tatsächlich um ihr Leben fürchten. Darüber hinaus sollten wir nur jene ins Land holen, die uns wirtschaftlich weiterhelfen.
Keine allzu blöde Idee wäre es vermutlich auch, die Gesetze der ökonomischen Schwerkraft zu respektieren. Wohlstand entsteht nicht durch das Verteilen von gedrucktem Geld, Wohlstand entsteht durch eine auf den internationalen Märkten erfolgreiche, wettbewerbsfähige Wirtschaft. Es ist völlig in Ordnung, in schlechten Zeiten Budgetdefizite zu erwirtschaften, aber es ist auch kein Vergehen an der Solidargemeinschaft, die aufgerissenen Defizite in Zeiten der Hochkonjunktur mit Budgetüberschüssen auszugleichen. Das alles ist kein Drehbuch für einen aufregenden James Bond. Aber möglicherweise eine ganz gute Basis für ein passables Leben, dessen Gelingen nicht von den Launen anderen abhängt.
Kolumne von Franz Schellhorn in der “Presse” (02.10.2022).
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