In Wien steht eine Koalition zwischen SPÖ und den NEOS vor der Tür. Ob der Karl-Marx-Hof das überstehen wird? Und was soll aus dem Wiener Wasser werden?
Die Stimmung auf Austro-Twitter war schon mal besser. Seit der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) vergangenen Dienstag die erstaunte Öffentlichkeit informierte, mit den NEOS eine “Fortschrittskoalition” bilden zu wollen, herrscht Verdruss. Das ist verständlich. Geübte Linke wissen, was eine Beteiligung der NEOS in der Stadtregierung zu bedeuten hätte: die konsequente “Neoliberalisierung Wiens”. Der Karl-Marx-Hof wird in die Friedrich August-von-Hayek-Residence umbenannt, die kommunale Wasserversorgung geht an Coca-Cola, Müllabfuhr und die Straßenbahn werden an den Bestbieter verklopft, Gemeindewohnungen an kaufwillige Mieter abgegeben und Bedienstete der Stadt Wien werden künftig bis zum Erreichen des 58. Lebensjahres schuften müssen. Wenn Margaret Thatcher das noch erlebt hätte!
Nicht wirklich geklärt ist, ob die geradezu hysterische Angst vor den NEOS eine gespielte oder eine tatsächliche ist. Ob die Schreckensszenarien aus taktischen Gründen ins Spiel gebracht werden, um den drohenden Verlust von Pfründen und Einfluss noch irgendwie abzuwenden. Oder ob wirklich davon ausgegangen wird, dass demnächst die Heuschrecken über das kommunale Wien herfallen werden. Es kann aber nur Ersteres sein, kein Mensch kann ernsthaft die Neoliberalisierung Wiens als plausibles Szenario in Betracht ziehen. Zwar sind die NEOS liberaler als andere im Wiener Gemeinderat vertretenen Parteien, was sie aber noch nicht zu liberalen Überzeugungstätern macht. Geschweige denn zu bösen Neoliberalen. Vielmehr dürfte Michael Ludwig mit seinem Befund richtig liegen, dass sich die NEOS weltanschaulich in die (aus Ludwigs Sicht) “richtige Richtung” entwickelt haben.
Das ist ziemlich schade. Denn wenn dieses Land etwas dringend brauchen könnte, dann ist das eben genau diese Portion Liberalismus, vor der sich die linken Grünen und Roten auf Twitter so fürchten. Aber der steht nicht wirklich im Angebot. Denn der Liberalismus erschöpft sich hierzulande weitgehend darin, dass zwar in Grundsatzpapieren viel über die Eigenverantwortung mündiger Bürger philosophiert, aber im Tagesgeschäft zur Lösung aller auftretenden Probleme der Staat zu Hilfe gerufen wird. Mehr Geld der Steuerzahler für die staatliche Bildung? Aber gerne! Mehr Geld der Steuerzahler für die öffentliche Kinderbetreuung? Klar doch! 1000 Euro Grundsicherung für Künstler? Selbstverständlich, was wäre eine Stadt der Kunst ohne Künstler?
Gegen all diese “neoliberalen” Forderungen der NEOS wird die SPÖ nicht viel einzuwenden haben. Und dennoch werden die pinken Vertreter immer wieder des Wirtschaftsliberalismus verdächtigt. Das ist ungerecht. Erst unlängst warnte eine Nationalratsabgeordnete der NEOS vor der “Verkommerzialisierung” der Wiener Gassen. Die Bewohner der Bundeshauptstadt bräuchten so etwas wie Ruheräume. Ruhe vor Geschäften wohlgemerkt, denn allein deren Vorhandensein verführe die Menschen zum Einkaufen. Nun ja.
Links der Mitte kommt das gut an, auch wahlstrategisch scheint der geänderte Kurs aufzugehen. Liberale könnten sich hingegen fragen, ob es in Österreich wirklich immer mehr Staat braucht. Ob das zweitteuerste Bildungssystem Europas tatsächlich unter akuter Geldnot zu leiden hat. Oder ob es nicht an gesundem Wettbewerb zwischen privaten und öffentlichen Schulen fehlt. Genau da wäre anzusetzen: dass nicht nur Kindern aus begüterten Haushalten die Flucht aus schlechten Schulen möglich wird, sondern insbesondere jenen, deren Eltern das Geld dazu fehlt. In den Niederlanden bekommt jeder Schüler einen öffentlichen Bildungsscheck. Ob dieser bei einer guten öffentlichen oder einer privaten Schule eingelöst wird, ist dem Staat egal. Er stellt Wahlfreiheit sicher.
Auch in den städtischen Kindergärten scheint das zentrale Problem nicht darin zu liegen, dass es zu wenig Geld für mehr Betreuer gibt. Vielmehr darin, dass viele Kinder kurz nach Mittag abzuholen sind. Nämlich jene, deren Eltern nicht Vollzeit arbeiten. Mit dieser Regelung wollte die Politik die “Cappuccino-Moms” treffen. In der Realität sind es vor allem Mütter aus Zuwandererfamilien, die wegen fehlender Sprachkenntnisse keinen Job haben und deshalb keinen Ganztagesplatz für die Kinder bekommen. Gerade diese bräuchten ihn am meisten, um sprachliche Fortschritte zu erzielen. Diese absurde Regelung zu kippen, wäre ein Schritt in die ideologisch “richtige Richtung”.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Wien ist eine schöne und lebenswerte Stadt, das öffentliche Angebot ist besser als in vergleichbaren Städten. Aber es gibt eine ganze Reihe von offensichtlichen Problemstellen, die nicht mit noch mehr Steuerzahler-Geld und noch mehr Sozialismus zu lösen sind. Ein bisschen mehr Liberalismus täte der Stadt richtig gut. Und die NEOS haben sich die Chance verdient, den einzubringen. Aber die Gefahr einer neoliberalen Welle ist begrenzt. Und Austro-Twitter kann sich entspannen. Selbst Coca-Cola hat diese Tage andere Probleme als das Wiener Wasser.
Kolumne von Franz Schellhorn im „Profil“ (31.10.2020)
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