Seit der Antike streiten die Menschen über Zinsen. Wie hoch sollen sie sein? Darf man sie überhaupt einheben und wenn ja, von wem? Doch das Dilemma, in dem die Europäische Zentralbank derzeit steckt, beweist: Zinsen einfach abzuschaffen, ist auch keine Lösung.
Es war ein historisch bedeutsamer Tag: Am 9. Juni traf sich der EZB-Rat, das oberste Beschlussorgan der Europäischen Zentralbank, und beschloss, im Juli zum ersten Mal seit elf Jahren die Leitzinsen in der Eurozone zu erhöhen.
Zwar geht es nur um ein bescheidenes Plus von 0,25 Prozentpunkten. Dennoch handelt es sich um eine Zäsur. Weitere Anhebungen werden wohl folgen, die nächste danach im September. Die lange Phase der Nullzinspolitik ist damit bis auf weiteres vorbei.
Seit die bevorstehende Trendwende bekannt gegeben wurde, formieren sich die Kritiker: Die EZB handle zu spät und zu vorsichtig, finden viele Ökonomen. Andere warnen vor den möglicherweise dramatischen Folgen selbst dieser kleinen Zinserhöhung auf die Stabilität hoch verschuldeter Euroländer. Angesichts rekordhoher Inflationsraten und einer drohenden Wirtschaftskrise steckt die Zentralbank tatsächlich in einer schwierigen Lage: Was immer sie tut, kann falsch sein. Und mit Nachsicht darf die EZB – nachdem sie in den vergangenen Jahren viele falsche Anreize gesetzt hat – nicht mehr rechnen.
Über die Rechtmäßigkeit von Zinsen und deren angemessene Höhe streiten Menschen schon sehr lange. Gleich mehrere Weltreligionen haben ihren Anhängern überhaupt verboten, Zinsen einzuheben. „Du sollst von deinem Bruder nicht Zins nehmen, weder für Geld, noch für Speise, noch für alles, wofür man Zinsen nehmen kann“, heißt es etwa im fünften Buch Mose. Der griechische Philosoph Platon sprach sich ebenso wie sein Schüler Aristoteles strikt gegen Zinsen aus. Im Christentum ist das Zinsverbot bekanntlich gefallen, im Islam gilt es bis heute.
In der Ökonomie sind Zinsen als wichtiger Bestandteil der Geldpolitik dagegen unumstritten. In Österreich waren die Zinsen – mit ein paar Ausreißern – in den vergangenen Jahrzehnten oft höher als die Inflation. Mitte der 1990er-Jahre lag der Leitzins im Jahresschnitt bei heute unvorstellbaren 9,1 Prozent, die Teuerung aber nur bei etwas mehr als vier Prozent.
Die nun schon seit 2016 andauernde Nullzinspolitik der EZB markierte einen überlangen Ausnahmezustand. Auch wenn die Inflation weit unter dem angestrebten Zielwert lag, blieb sie trotzdem höher als der Leitzins. Dass es so nicht ewig weitergehen würde, war klar. Es war utopisch anzunehmen, dass Schuldenmachen für immer faktisch gratis ist und die Inflation immer so gering bleibt. Viele Ökonomen hatten davor gewarnt, dass eine Erhöhung der Inflation die EZB in ein Dilemma führen könnte und sogar eine weitere Eurokrise möglich war. Jetzt ist dieser Punkt des Weges erreicht und der Katzenjammer groß.
Wer sich fragt, wie es so weit kommen konnte, landet schnell bei der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008. Damals wurden die Weichen für eine Entwicklung gestellt, die uns jetzt vor so große Probleme stellt. Sowohl die EZB als auch die US-amerikanische Notenbank Federal Reserve reagierten auf die Krise mit massiven Zinssenkungen. Innerhalb weniger Monate purzelte der Leitzinssatz in den USA von ursprünglich mehr als fünf Prozent auf das untere Limit von Null Prozent. Die EZB dagegen senkte die Zinsen erst etwas weniger stark als die Fed, kam aus dem Teufelskreis aus niedrigen Zinsen und stetig steigender Schuldenlast aber nicht mehr heraus. Im März 2016 wurden die Zinsen in der Euro-Zone dann abgeschafft. Bei derzeit mehr als acht Prozent Inflation können die Bürger ihren Finanzreserven also praktisch beim Schrumpfen zusehen.
Weil die Zinsen nicht mehr weiter sinken konnten, begann vor allem die EZB, nach der Finanzkrise auch noch in großem Stil Staats -und Unternehmensanleihen zu kaufen. Die sogenannte „unkonventionelle Geldpolitik“ war geboren. Da die Inflation in der Eurozone trotzdem lange unter dem Zielwert von zwei Prozent blieb, sah die EZB-Führung keinen Grund, von ihrem expansiven Pfad abzurücken. Jahre später ist die unkonventionelle Geldpolitik zur Normalität geworden.
In welch gefährliches Fahrwasser diese Strategie den gesamten Währungsraum geführt hat, zeigte sich unmittelbar nach der Entscheidung, den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte zu erhöhen und die Anleihekäufe auslaufen zu lassen. Kurz darauf schnellten die Zinsen von zehnjährigen italienischen Staatsanleihen auf vier Prozent – so hoch wie seit 2014 nicht mehr. Stark verschuldete Länder wurden durch die lockere Geldpolitik abhängig von der EZB. Auf dem freien Markt müssen für diese Anleihen wesentlich höhere Zinsen bezahlt werden, unter anderem deswegen, weil die Anleger – durchaus zu Recht – ein höheres Risiko sehen als bei finanziell besser aufgestellten Ländern wie etwa Deutschland.
Umgekehrt hat sich auch die EZB in ihrer Handlungsfähigkeit selbst massiv eingeschränkt. Will sie nicht riskieren, dass einige Euroländer in ernsthafte Zahlungsschwierigkeiten geraten und damit den Fortbestand der Währungsunion gefährden, darf die Zentralbank die Zinsen nicht zu stark erhöhen. Mit einer homöopathischen Dose wie den jetzt beschlossenen 0,25 Prozentpunkten wird sich aber die Inflation nicht ausreichend in den Griff bekommen lassen. Selbst die zusätzliche Zinserhöhung im September wird nicht ausreichen. Dabei wäre die Preisstabilität eigentlich die wichtigste Aufgabe der EZB.
Die Zentralbank versucht also einen Spagat: Überlegt wird derzeit, die Unterschiede zwischen den Anleihezinsen möglichst gering zu halten. Darstellen ließe sich das nur mit Eingriffen in die Marktmechanismen; die Zinsen müssten gedeckelt werden. Doch davor kann man nur warnen. Solche Interventionen würden langfristig dazu führen, dass die EZB einen immer größeren Teil der risikoreichen Staatsanleihen kaufen müsste, um die Zinsen künstlich niedrig zu halten. Aus diesem Modus je wieder auszusteigen, würde sehr schwierig. Die EZB hat mit diesen Anleihekäufen seit Jahren falsche Anreize gesetzt. Diese haben dazu geführt, dass Staatshaushalte nicht konsolidiert oder zu wenig notwendige Strukturreformen eingeleitet wurden.
Wieso der Trend der Zinsen seit Jahren ein fallender ist, erklären viele Zentralbanker immer öfter mit dem sogenannten „natürlichen Zinssatz“. Dieser sei in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls stetig gesunken und liege derzeit gemäß mancher Schätzungen sogar unter Null. Diesem Trend nicht zu folgen, hätte die Geldpolitik zu restriktiv gestaltet, heißt es. Aber stimmt das auch? Oder ist es nur eine bequeme Ausrede?
Der natürliche Zinssatz ist ein rein theoretisches, abstraktes Konstrukt, das vor über hundert Jahren vom schwedischen Ökonomen Knut Wicksell entwickelt wurde. Gemeint ist damit jener Wert, der bei Vollbeschäftigung und stabiler Inflation in einer geschlossenen Volkswirtschaft gelten würde. In diesem Gleichgewicht gibt es keine Schocks, der Output ist gleich hoch wie das Potenzial. Die Wirtschaft wächst genau im richtigen Tempo, es gibt weder eine Rezession, noch eine Überhitzung. Mit anderen Worten: Alle Bedingungen sind genauso, wie sie sein sollten; Störungen von außen gibt es nicht.
Mithilfe dieses natürlichen Zinssatzes messen Experten, wie locker oder restriktiv die Geldpolitik gerade ist – vereinfacht, ob also zu viel Geld in den Markt gepumpt wird, oder zu wenig im Umlauf ist. Das lässt sich besser im Nachhinein feststellen, da Berechnungen in Echtzeit schwierig und sowieso bereits sehr unsicher sind. Liegt der von der Zentralbank gesetzte, um die Inflation bereinigte, Zinssatz unter dem natürlichen Zinssatz, war die Geldpolitik locker, lag er darüber, war die Geldpolitik restriktiv. Wenn die EZB also, wie sie es jetzt vor hat, die Geldpolitik „normalisieren“ möchte, orientiert sie sich daher am natürlichen Zinssatz.
Problematisch sind allerdings die Unschärfen bei der Bestimmung des natürlichen Zinssatzes. Einfach ausrechnen kann man diesen Wert nicht, da er nicht beobachtbar ist. Man kann sich nur mit Schätzungen annähern – und diese gehen mitunter weit auseinander. In der Eurozone pendelten die Angaben 2019 noch zwischen minus zwei und plus 0,5 Prozent. In den USA lagen sie etwas höher. Klar zeigt sich nur, dass der Wert in den vergangenen Jahrzehnten praktisch in allen Industrieländern stark gesunken ist.
Das nimmt der Zentralbank Spielraum, weil sie auch bei guter Wirtschaftslage die Zinsen nicht stark erhöhen kann, ohne übermäßig restriktiv zu handeln. Nicht umsonst sprechen Zentralbanker in ihren Reden in den vergangenen Jahren immer öfter gerne über den fallenden natürlichen Zinssatz. Aus Sicht der Experten ist das bequem, denn es nimmt sie selbst aus der Verantwortung. Wenn der natürliche Zinssatz sinkt, liege das ja an strukturellen Faktoren, für die keiner etwas könne, heißt es. Genannt werden etwa der demographische Wandel und die sinkende Produktivität.
Ist die EZB also völlig unschuldig an den niedrigen Zinsen und der hohen Inflation? Nein, damit macht sie es sich zu einfach. Forscher der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS) kamen jedenfalls zu dem Schluss, dass der Einfluss von strukturellen Faktoren auf den natürlichen Zinssatz langfristig kaum nachzuweisen sei. Die Beweise verdichten sich, dass Zentralbanken die Misere mit verschuldet haben – und zwar durch die eigene Niedrigzinspolitik. Diese könnte den natürliche Zinssatz weiter reduziert haben und den Spielraum für Zinserhöhungen dadurch selbst verkleinert haben.
Eine Fehleranalyse wird zweifellos notwendig sein, doch in der aktuellen Misere bringt es wenig, in der Vergangenheit zu forschen. Jetzt ginge es darum, der EZB wieder den Spielraum zu verschaffen, den sie braucht. Dazu gibt es einige Ideen:
Die EZB könnte sich zum Beispiel an der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve orientieren und die Definition der Preisstabilität verändern. Die Fed beschloss schon vor einiger Zeit, dass die die angestrebten zwei Prozent Inflation nur noch im Durchschnitt mehrerer Jahre erreicht werden müssen, nicht mehr jedes Jahr. Ist die Teuerung so hoch wie jetzt, müsste die Zentralbank natürlich trotzdem gegensteuern. Aber bei normalen Schwankungen wären nicht sofort Gegenmaßnahmen nötig. Die EZB hat ihr Inflationsziel vergangenes Jahr bereits etwas in diese Richtung verändert. Jedoch ist es von tatsächlicher Flexibilität weit entfernt. Noch ist das Zukunftsmusik. Das Ziel muss jetzt sein, die Zinsen soweit zu erhöhen, um die Inflation nach der jetzigen Definition in den Griff zu bekommen. Doch langfristig sind die extrem niedrigen Zinsen eine Belastung für die gesamte Volkswirtschaft im Euroraum und nehmen Spielraum in Krisen. Dagegen muss etwas unternommen werden.
Schulden machen kann manchmal notwendig und richtig sein. Doch wer sich Geld leiht, muss dafür etwas bezahlen. Sonst gerät das gesamte System aus den Fugen. Wenigstens diese Erkenntnis verdanken wir der aktuellen Krise. Jetzt müssen wir nur noch die richtigen Schlüsse daraus ziehen.
Gastkommentar von Heike Lehner in der “Wiener Zeitung” (02.07.2022).
Kredite im Euro-Raum werden wieder billiger. Hoffentlich ist das nicht der nächste schwere Fehler der Europäischen Zentralbank.
Langsam, sehr langsam nimmt der Inflationsdruck in Österreich ab. Die Statistik Austria hat am Freitag die erste Schnellschätzung für Mai veröffentlicht: 3,3 Prozent waren es noch im Vergleich zum Vorjahr.
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