Worüber die EZB nicht so gerne spricht
- 22.09.2019
- Lesezeit ca. 4 min
Die Europäische Zentralbank lässt keinen Zweifel daran, wer im Fokus ihrer Politik steht. Kleiner Spoiler: Die einfachen Bürger sind es nicht.
Kurz nach Ausbruch der Finanzkrise (2008) veröffentlichte der Brüsseler Thinktank Bruegel eine Studie mit recht bedrückendem Inhalt. Kernaussage: „Die Krise könnte als der Moment in Erinnerung bleiben, als Europas wirtschaftlicher Abstieg unumkehrbar begann“. Die Bruegel-Ökonomen sahen schon damals eine ganze Reihe von Staaten in der Schuldenfalle sitzen, allerorts explodierten die Defizite und nirgendwo war auch nur ansatzweise zu erkennen, wie die wachsenden Schuldenberge je wieder abgetragen werden könnten.
Würde es also der EU-Kommission nicht gelingen, die politischen Führungsriegen der Mitgliedsländer auf einen Ausstieg aus der staatlichen Deficit-Spending-Politik einzuschwören, drohe Europa ein nachhaltiger Wohlstandsverlust. Entweder werden die Vermögenswerte der Bevölkerung von der Nullzinspolitik aufgezehrt oder die schwer verschuldeten Staatshaushalte kommen unter enormen budgetären Druck, falls die Zinsen wieder steigen sollten.
Zehn Jahre später liegt folgender Befund nahe: Der EU-Kommission ist es nicht gelungen, die nationalen Regierungen von der Notwendigkeit eines Ausstiegs aus den öffentlichen Ausgabenprogrammen zu überzeugen. Im Gegenteil: Die staatlichen Konjunkturspritzen werden immer weiter aufgezogen und kamen selbst in den Jahren des Booms zum Einsatz. Was auch irgendwie verständlich ist, schließlich lauert seit zehn Jahren hinter jeder Straßenecke ein von der Europäischen Zentralbank (EZB) entsandter Dealer, der den Politikern die verführerische Droge namens Gratisgeld unter die Nase hält.
Rechtfertigte die EZB ihre Nullzinspolitik ursprünglich noch damit, den Regierungen Zeit und Mittel zu verschaffen, um ihre Volkswirtschaften zu modernisieren, bekommen sie heute unbegrenzt Gratisgeld, um ihre nicht modernisierten Volkswirtschaften am Laufen zu halten. Jede Zinserhöhung würde eine ganze Reihe von Eurostaaten finanziell an den Rand des Abgrunds treiben. Und genau das muss um jeden Preis verhindert werden, wie die in der Vorwoche weiter abgesenkten Zinsen zeigen. Zudem wird die EZB ab November auch wieder im großen Stil Staatsanleihen aufkaufen, bereits jetzt hält sie ein Viertel der Schulden aller Euroländer. Verbotene Staatsfinanzierung hin oder her.
Die Anreize dieser auf die Schuldnerstaaten ausgerichteten Geldpolitik werden weitgehend ausgeblendet. Verschulden sich Staaten, verdienen sie damit Geld. Zahlen sie – wie etwa Deutschland – in wirtschaftlich guten Zeiten Schulden zurück, die sie in schlechten Zeiten aufgenommen haben, werden die zuständigen Politiker von namhaften Ökonomen an den Pranger gestellt und abgeurteilt. Wie der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble.
Weitgehend unkommentiert bleibt auch die verheerende Verteilungswirkung. Während Wohlhabenden jede Menge Ausweichmöglichkeiten offenstehen, wie der Ankauf von Immobilien, haben weniger kapitalkräftige Teile der Bevölkerung diese Optionen nicht. Sparen sie an, um etwa für das Alter vorzusorgen, vernichten sie Geld. Über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg wird bei sicheren Veranlagungen wie Staatsanleihen oder Sparbüchern nach Abzug von Inflation, Steuern und Gebühren die Hälfte des Kapitals vernichtet worden sein. Die Botschaft an die einfachen Bürger ist glasklar: Es kommt billiger, sich heute zu verschulden und kräftig zu konsumieren, statt anzusparen. Das ist kein gutes Signal für eine alternde Gesellschaft, in denen immer weniger Einzahler in das Pensionssystem einer immer größer werdenden Empfängerschaft gegenüberstehen.
Geradezu verheerend ist die fortschreitende Schwächung der Produktivität einzelner Volkswirtschaften. Nehmen wir nur Italien: Seit Ausbruch der Finanzkrise halten Banken zunehmend Unternehmen in schlechter Verfassung mit Billigkrediten über Wasser. Diese Firmen können zwar ihre Schulden nicht mehr bedienen, bekommen aber immer wieder frisches Geld von den Banken, die sich selbiges von der EZB holen. Gerade schwach kapitalisierte Banken haben größtes Interesse daran, diese „Zombies“ künstlich am Leben zu erhalten, um so drohende Verluste zu verschleiern und die Mindestkapitalanforderungen zu erfüllen. Dadurch wird jede Menge Geld in unproduktiven Firmen gebunden, das gesunden Unternehmen fehlt.
Irgendwann wird die Bombe platzen. Und dann? Ja dann werden wieder Politiker mit bedrückter Miene vor die Mikrofone treten und darüber klagen, dass die Steuerzahler doch noch einmal ausrücken müssen, um die unfähigen Banken zu retten. Andere werden den Finger gleich auf die Marktwirtschaft richten, die wieder einmal vor sich selbst zu schützen ist. Niemand wird davon reden, dass sie von der Geldpolitik ihrer zentralen Funktionsweise beraubt wurde: Nämlich jener, unproduktive Unternehmen aus dem Markt zu nehmen.
Das alles sieht zugegebenermaßen nicht allzu rosig aus. Aber wer weiß, vielleicht haben sich die Bruegel-Ökonomen ja auch geirrt. Und wir leben mit den Negativzinsen glücklich bis ans Ende unserer Tage.
Kommentar von Franz Schellhorn im “Profil” (22.09.2019).
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