Wohin mit den vielen EU-Milliarden?
- 09.03.2021
- Lesezeit ca. 6 min
Europa macht erstmals gemeinsam Schulden. Ob das Projekt von historischer Tragweite auch den gewünschten Stärkungseffekt nach der Pandemie hat, hängt vor allem vom Einsatz der Mittel ab.
Das Jahr 2020 war ein besonderes. Die Pandemie hat großen Schaden angerichtet und gleichzeitig bis dahin Undenkbares ermöglicht. So wurden erstmals seit vielen Jahren innereuropäische Grenzen geschlossen, aber auch eine gemeinsame europäische Verschuldung auf den Weg gebracht. Erstmals in ihrer Geschichte wird die Europäische Union Geld zur Verfügung haben, das nicht aus den Beiträgen ihrer Mitglieder kommt, sondern aus der Aufnahme von Schulden auf dem Kapitalmarkt. Insgesamt 750 Milliarden Euro sollen so zusammenkommen – etwa 40 Prozent des gesamten EU-Budgets der nächsten Jahre. Der Titel dieses Vorhabens, das im Jahr eins nach dem Brexit kommt: “Next Generation EU”. Vom Gesamtvolumen stehen 390 Milliarden Euro als Zuschüsse zur Verfügung, 360 Milliarden Euro können von den Staaten als günstige Kredite aufgenommen werden und sind an die EU zurückzuzahlen.
Neue Krise, neues Vehikel
Dieser Fonds soll eine europäische Antwort auf die Pandemie sein – er soll die Union aber auch weiterentwickeln. Offiziell wird er als europäische Solidaritätserklärung verkauft. In anderen Worten: Die EU soll gestärkt aus der Krise hervorgehen. Bereits bestehende und sich durch die Krise erweiternde Ungleichheiten zwischen den EU-Staaten sollen eingedämmt werden. Deshalb werden die Gelder aus dem Fonds auch nach einem bestimmten Schlüssel verteilt: Zu 30 Prozent orientieren sich die Zahlungen am Ausmaß der Corona-Krise im jeweiligen Land. 70 Prozent der Auszahlung erfolgen auf Basis von Wohlstand, Bevölkerung und Arbeitslosigkeit. Diese Aufschlüsselung soll dafür sorgen, dass ärmere Mitgliedstaaten mehr Zuschüsse erhalten, selbst wenn wohlhabendere Staaten stärker unter der Krise leiden.
Ein Großteil der Zuschüsse, nämlich 312,5 Milliarden Euro, fällt in einen Fonds, der von den Mitgliedstaaten für Projekte verwendet werden kann, die Ziele wie etwa Klimaschutz oder Digitalisierung verfolgen. Berechnungen des Budgetdienstes machen deutlich, dass der Großteil der Zuschüsse südlichen Mitgliedstaaten wie etwa Griechenland, Kroatien und Spanien zugutekommen wird. Aufgrund der noch unsicheren BIP-Prognosen ist das genaue Volumen noch unsicher.
Um an Geld zu kommen, müssen Vorschläge zu dessen Einsatz bei der EU-Kommission eingereicht werden. Der Vorteil für viele Staaten im Vergleich zum bisherigen Prozedere: Ist das Geld einmal genehmigt, fließt es definitiv, es ist an keine zusätzlichen Bedingungen geknüpft. Unpopuläre Reformen wie bei den Krediten über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) werden also ausbleiben.
Politik vor Ökonomie
Aber was tun mit all dem Geld? Aus ökonomischer Sicht sollte dieser neugeschaffene EU-Haushalt drei Schwerpunkte setzen.
- Erstens: Stabilisierung der Wirtschaft. Im Lichte historischer Wirtschaftseinbrüche erscheint die Einrichtung eines Fonds, der die Krise abmildern und die Länder widerstandsfähiger machen soll, gerechtfertigt.
- Zweitens: Bereitstellung öffentlicher Güter. Das betrifft beispielsweise eine gemeinsame europäische Infrastruktur, die effektiver und kostengünstiger auf europäischer anstatt auf nationalstaatlicher Ebene bereitgestellt werden könnte. Dazu kommen Themen wie Digitalisierung, Verteidigungs- und Umweltpolitik.
- Drittens: Verteilungsaufgaben. Im Fall der Europäischen Union bedeutet dies insbesondere, das Auseinanderdriften von regionalen Wirtschaftsräumen zu verhindern.
Die ersten beiden Punkte werden vom EU-Haushalt aber nur rudimentär erfüllt. Wenn die EU-Mitgliedstaaten sich dazu entschließen, einen Aufbaufonds zu installieren, dann sollte dieser zumindest auch dem Namen gerecht werden. Um die Wirtschaft nach einer Krise zu stabilisieren, sollte ein echter Krisenaufbaufonds, also ein tatsächliches Konjunkturpaket, bereits rasch in der Krise eingesetzt werden, um dem Einbruch entgegenzuwirken. Anstatt auf den bereits bestehenden Europäischen Stabilitätsmechanismus zurückzugreifen, wurde das Rad wieder einmal neu erfunden. Dementsprechend fließen auch die Auszahlungen spät.
Die Idee von Kriseninstrumenten sollte ja sein, sie im Bedarfsfall schnell zur Hand zu haben. Wenn jedes Feuer mit einem neuen Werkzeug bekämpft werden muss, ist es um die Schnelligkeit geschehen. Zudem widersprechen Mittelverteilung und Mittelverwendung der Definition eines klassischen Aufbaufonds. Nicht die Länder mit dem stärksten Wirtschaftseinbruch, sondern jene mit niedrigem Wohlstand erhalten die meisten Zuschüsse.
Für die gemeinsame Infrastruktur in der EU sind im Budget jährlich etwa 4 Milliarden Euro vorgesehen. Das ist für einen Bereich, der die Bürger entlasten und einen tatsächlichen europäischen Mehrwert bringen könnte, ein vergleichsweise geringer Betrag. Allein Österreich hat im Jahr 2019 rund 11 Milliarden ausschließlich für Verkehr ausgegeben. Ähnlich bescheiden fällt der Haushalt zur Grenzsicherung aus. Zwar soll ein Großteil der Gelder in Digitalisierung und Klimaschutz fließen, dies erfolgt durch die nationale Zuteilung der Gelder, aber keineswegs auf einer koordinierten europäischen Ebene.
Bedeutung für Österreich
Die 390 Milliarden Euro des Aufbaufonds sollen nicht durch zusätzliche Mitgliedsbeiträge der Nationalstaaten finanziert werden, sondern durch Eigenmittel der EU. Allerdings bleibt abzuwarten, ob es für die Einhebung eigener Einnahmen einen Konsens unter den Mitgliedstaaten geben wird. Ideen hierfür sind eine Digitalsteuer, CO2-Grenzzölle oder eine Mindestkapitalertragsteuer. Die Vorschläge der EU-Kommission hierzu sollten bis Mitte 2024 vorgelegt werden. Die Tilgung soll im Jahr 2028 beginnen und bis 2058 abgeschlossen sein.
Sollte es zu keiner Einigung und damit zu keiner signifikanten Rückzahlungen über eigene Einnahmen kommen, haften die Mitgliedstaaten anteilig ihrer Wirtschaftsleistung. Im Zweifel müssen sie zusätzliche Mittel zum Budget zuschießen. Dann würde Österreich im Endeffekt trotz der erhaltenen Zuschüsse mehr einzahlen als Geld bekommen. Laut dem deutschen ifo-Institut würde Kroatien dann netto rund 1.300 Euro pro Kopf erhalten, während Österreich rund 750 Euro zahlen müsste.
Dennoch: Auch wenn der Fonds in seiner Ausgestaltung durch politische Entscheidungen nicht optimal aufgestellt ist, sollten die für Österreich bereitgestellten Gelder eine sinnvolle Verwendung finden. Da auch bereits geplante, nationale Projekte mit diesen Geldern finanziert werden dürfen, könnte Österreich sie auch teilweise dazu verwenden, das nationale Budget nicht noch stärker zu belasten.
Der Nutzen des Aufbaufonds wird wesentlich davon abhängen, welche Effekte die Gelder in Österreich, aber auch bei den europäischen Nachbarn auslösen. Die Zielsetzung Österreichs sollte dabei auf der Qualifizierung am Arbeitsmarkt, der Verbesserung des Bildungssystems, der Etablierung einer digitalen Verwaltung und Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen sowie einer steuerlichen Entlastung, insbesondere im Bereich der Arbeit, liegen.
Gastkommentar von Heike Lehner und Hanno Lorenz in der “Wiener Zeitung” (06.03.2021).
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