Innenpolitik

War ja nicht alles schlecht, oder?

30 Jahre nach ihrem Scheitern erfreut sich die DDR wieder steigender Beliebtheit. Kein Wunder: Verklärung statt Aufklärung, heißt das Motto.

Eine wachsende Zahl von Menschen findet heute, dass es in der DDR eigentlich gar nicht so schlimm war. Unter vielen Jungen hat die untergegangene Diktatur im Osten Deutschlands sogar Kultstatus. Produkte aus der planwirtschaftlichen Produktion sind „cool“, und Herr Honecker hat über die Jahre hinweg viel von seinem Schrecken eingebüßt. Er gilt nicht mehr als der grausame Diktator, sondern als schrulliger Opi mit einer komischen Brille. Jemand, mit dem man gerne mal auf ein Bier gegangen wäre, um ein wenig zu plaudern. Darüber, wie es so war in der guten alten DDR.

Klar, das Land war keine lupenreine Demokratie, auch wenn sie diese im Namen trug. Und ja, die Menschen hatten weniger als ihre Landsleute im Westen. Sie kannten keinen Luxus, dafür hatten sie Arbeit und leistbare Wohnungen. Nicht zu vergessen die Kindergärten, die waren toll. Kostenlose Ganztagsbetreuung durch linientreue Genossen. War ja nicht alles schlecht, damals. So sehen das jedenfalls viele junge Menschen in Gebieten, die vor nicht allzu langer Zeit noch fest in den Händen der Staatssicherheit waren. Vielen dieser jungen Leute fehlt es offenbar an Wissen. Anders ist nicht zu erklären, dass heute 76 Prozent der Ostdeutschen unter 30 auf die Frage des Allensbach Instituts, ob die Lebensumstände in der DDR ganz erträglich gewesen seien oder dringend zu ändern gewesen wären, mit „Ich weiß nicht“ antworten.

Die Ostdeutschen unter 30 haben keine Vorstellung davon, unter welchen Umständen ihre Vorfahren gelebt haben.

Sie wissen es nicht. Sie haben keine Vorstellung davon, unter welchen Umständen ihre Vorfahren gelebt haben. Wie sich ihre Eltern und Großeltern vor leeren Regalen die Beine in den Bauch standen und sich nur mit leicht bitteren Witzen bei Laune halten konnten. Etwa mit jenem, wie eine Frau in den Konsum kommt und den Verkäufer hinter der Theke fragt: Gibt es hier denn kein Brot? Worauf dieser antwortet: Nein, hier gibt es kein Fleisch. Kein Brot gibt es im ersten Stock!

Scherze wie diese konnten tödlich sein. Die DDR war nämlich nicht der eigenartige Oststaat mit ein paar Unzulänglichkeiten. Sondern ein gnadenloser, perfekt organisierter Spitzelstaat, vor dem man nicht einmal innerhalb der eigenen Familie sicher war. Ein Staat, der Hunderttausende in den Knast steckte, weil sie den Sozialismus nicht für die ganz große Offenbarung hielten. Davon wird heute nicht mehr geredet, stattdessen wird vom günstigen Wohnraum geschwärmt.

In welchem Zustand diese Wohnungen nach 44 Jahren Sozialismus waren, scheint nicht mehr zu interessieren. Der deutsche Historiker Rainer Zitelmann weiß es: Jedes zehnte Wohnhaus war unbewohnbar, vier von zehn Wohnhäusern schwer beschädigt, 65 Prozent der Wohnungen wurden mit Kohleöfen geheizt, 24 Prozent hatten keine eigene Toilette, jede fünfte kein Bad, knapp 200 Altstadtkerne waren vom Verfall bedroht. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, wie gespöttelt wurde.

In den Köpfen vieler im Westen gilt die DDR heute nicht nur als Mieterparadies, sondern auch als eine Art Umweltidyll. Weil das Land nicht dem Kapitalismus frönte, der ja bekanntermaßen die ganze Welt in die ökologische Apokalypse führe. Im „Spiegel“ vom Juli 1985 liest sich das dann aber doch etwas anders. „In Leuna ist den Bewohnern der Arbeitersiedlung bis heute unbekannt, dass sie Obst oder Gemüse aus den eigenen Gärten nicht essen dürften: Es enthält Cadmium, Quecksilber und andere Schwermetalle – bis zu 150 Mal mehr, als die menschliche Gesundheit gerade noch verkraftet.“ Ganze Ortschaften waren unbewohnbar, wie das 500 Einwohner zählende Mölbis: „Kleinkinder leiden an chronischem Bronchialasthma. Erwachsene klagen über Atemnot oder Ekzeme, Kreislaufbeschwerden oder Depressionen. Das Leitungswasser ist ungenießbar.“ 

Ö1-Hörer wissen: Die Wiedervereinigung ging in die falsche Richtung.

Das wäre auch für die Redaktion der Ö1-Serie „Im Gespräch“ ein interessanter Lesestoff gewesen. Etwa als Vorbereitung auf das Interview mit der Schriftstellerin Daniela Dahn, das unlängst zu hören war. Schon bald war klar, dass die Wiedervereinigung nur einen schweren Makel in sich trug: Sie ging in die falsche Richtung. Nicht der Osten hätte die „überkommenen kapitalistischen Strukturen des Westens“ übernehmen müssen, sondern der Westen hätte sich einer reformierten DDR anschließen sollen. Man muss das gehört haben, um es glauben zu können. 

Im Vorjahr war übrigens Gregor Gysi in derselben Sendereihe zu Gast. Viele Hörer hätte sicher interessiert, wie man in einer Diktatur einer von nur 600 zugelassenen Anwälten wird und wie man in dieser Umgebung die Ansichten seiner Klienten vor der Stasi wahrt. Stattdessen wurde der letzte Vorsitzende der SED-PDS allen Ernstes gefragt, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Man wird ja wohl noch Tausende politische Abweichler vor der Öffentlichkeit in Schutz bringen und ein paar Tausend ausreisewillige Bürger vom Zaun knallen dürfen, oder? Im Harz war es doch auch schön, warum gleich ins imperialistische Ausland fahren?

Also dorthin, wo 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR vor allem über die Vorzüge des einstigen Terrorstaates philosophiert werden sollte.

Kolumne von Franz Schellhorn im aktuellen Profil (02.11.2019).

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