Um prominente Venezuela-Fans ist es still geworden. Kein Wunder, im Land mit den höchsten Ölreserven der Welt dominiert heute das Massenelend. – Kommentar von Franz Schellhorn
Im Laufe unseres Lebens irren wir Menschen ja immer wieder. Die einen gestehen ihre Irrtümer ein, andere wechseln einfach die Position, während Dritte die Wirklichkeit anklagen, die sich nicht an die Vorgaben halten will. Die Realität ist schließlich auch nicht mehr das, was sie einmal war. So geht es dieser Tage vermutlich einigen prominenten Linken, wenn sie Nachrichten aus Venezuela erhalten. Jenem Land, das sie vor nicht allzu langer Zeit noch mit Lob überhäuften.
So konnte etwa Nobelpreisträger Joseph Stiglitz seine Begeisterung für die Leistungen der sozialistischen Staatsführung bei einem Besuch in Caracas 2007 kaum in Worte fassen. Das Wachstum der Wirtschaft sei „impressive“, und im Gegensatz zu anderen Staaten würden die Einnahmen aus dem Ölverkauf in die Zukunft des Landes und in den Ausbau des Sozialstaates investiert. Plötzlich gab es kostenlosen Zahnersatz, Geld für Straßenkinder, für mittellose Mütter und für arme Pensionisten. Die damals schon hohe Inflation sei nicht zwangsläufig schädlich, wie der ehemalige Weltbank-Chefökonom Stiglitz beruhigte. Sorgen bereiteten ihm vielmehr die Freihandelsverträge, die nur den USA nützten.
Naomi Klein hätte es nicht besser ausdrücken können. In ihrem Buch „The Shock Doctrine“ (2007) zeigte sich die Kanadierin von Chávez’ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ tief beeindruckt. Schließlich habe er den Privatisierungswahn gestoppt, viele Betriebe den Arbeitern überantwortet und Genossenschaften hochgezogen. Das Land sei damit vor wirtschaftlichen Schocks gefeit, sozusagen ein Fels in der von neoliberalen Stürmen aufgepeitschten Brandung.
Für die Schließung des kritischen TV-Senders RCTV durch das Regime hatte die Journalistin Klein Verständnis: „Aber die Freiheit der Presse ist in Venezuela doch größer als in den USA. Die Opposition ist dort ganz einfach in der Lage, das Land lahmzulegen, den Präsidentenpalast zu stürmen und jeden Tag Anti-Regierungspropaganda zu verbreiten“, wie sie gegenüber dem deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im September 2007 meinte. Oskar Lafontaine sah das auch so, seiner Meinung nach sei die Medienfreiheit nicht in Venezuela in Gefahr, sondern in der westlichen Welt.
Vor wenigen Tagen stürmte nicht die Opposition den venezolanischen Präsidentenpalast, sondern das Militär im Auftrag des Präsidenten das Parlament, das mittlerweile durch eine linientreue „Volksversammlung“ ersetzt wurde. Demonstranten müssen damit rechnen, erschossen zu werden, Oppositionelle landen reihenweise im Gefängnis. Was den britischen Labour-Chef und treuen Venezuela-Bewunderer Jeremy Corbyn nicht davon abhalten konnte, „die Gewalt auf beiden Seiten“ zu verurteilen.
Im Land mit den größten Ölreserven der Welt leben mittlerweile 76 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Elf Prozent der Kinder sind unterernährt, in den Supermärkten gibt es fast nichts mehr zu kaufen. In vielen Schulen wird nicht mehr unterrichtet, in den staatlichen Spitälern sind kaum noch Operationen möglich, Kinder und Alte gehen elendig zugrunde, weil es keine Antibiotika mehr gibt (siehe Reportage Seite 48). Die sozialistische Revolution in Venezuela hat eben dasselbe Ergebnis wie alle sozialistischen Revolutionen vor ihr: Massenelend und Diktatur.
Wie es so weit kommen konnte? Es begann damit, dass Chávez die staatliche Ölgesellschaft unter politische Kontrolle brachte, um Tausende Fachkräfte durch treue Parteigänger zu ersetzen. Der Staatssektor wurde auf das Doppelte seiner Größe aufgeblasen, ausländische Firmen samt Know-how wurden aus dem Land gejagt, Tausende Betriebe verstaatlicht, die Privatwirtschaft de facto abgeschafft. Staatlich festgesetzte Preise lösten Angebot und Nachfrage ab. Immer mehr Anbieter stellten die Produktion ein, weil sie mit den (zu niedrigen) politisch bestimmten Preisen ihre Kosten nicht mehr decken konnten. Devisenkontrollen sollten die Zukäufe aus dem Ausland eindämmen, die wiederum die einzige Möglichkeit waren, die Grundbedürfnisse zu decken. Ein Wirtschaftsmodell, das Sahra Wagenknecht 2013 mit dem Prädikat „wegweisend“ schmückte.
Die Ursache allen Übels ist für viele Linke längst ausgemacht: Die „imperialistischen USA“ hätten den Ölpreis in den Keller geschickt, um Venezuela den Garaus zu machen. Tatsächlich ist der Preis für Rohöl innerhalb der vergangenen fünf Jahre um mehr als die Hälfte gefallen. Aber er ist immer noch fünf Mal höher als beim Amtsantritt von Hugo Chávez. Das Problem ist eben nicht der gefallene Ölpreis, sondern der Umstand, dass Venezuela nach 20 Jahren Sozialismus außer Erdöl so gut wie nichts mehr herstellt.
Während andere ölexportierende Länder den Preisfall gut verkraftet haben, versucht Venezuela die Lage mit der Notenpresse in den Griff zu kriegen. Die Folge: Hyperinflation. Die Preise verneunfachen sich jedes Jahr, vor wenigen Wochen ist dem Regime vorübergehend das Papier zum Drucken des Geldes ausgegangen, wenig später auch das Tränengas. Es wäre eigentlich zum Lachen. Wenn es nur nicht so traurig wäre.
Kommentar von Franz Schellhorn im „profil“, 12. August 2017
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