Wer die gewachsenen Strukturen in Österreich international vergleicht, erkennt schnell, dass die Sozialpartnerschaft hierzulande besonders stark ausgeprägt ist.[7]
Ist man nicht gerade Beamter oder etwa selbst im Vorstand eines Unternehmens, dann ist man in Österreich als Erwerbstätiger dem Kammerzwang unterworfen und verpflichtend Mitglied in einer der Kammern. Das bedeutet nicht, dass andere Länder keine Interessenvertretungen haben, sondern lediglich, dass ihre Mitglieder oftmals selber über ihre Mitgliedschaft entscheiden können. Während in Europa eine verpflichtende Arbeitnehmervertretung neben Österreich nur in Luxemburg sowie Bremen und dem Saarland zu finden ist, waren 2010 rund 70 Prozent der Arbeitgeberverbände in der EU-27 freiwillig. Pflichtmitgliedschaften gab es außer in Österreich lediglich in Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Spanien.
Um ihre verfassungsmäßig verankerte Rolle und gewachsene Größe zu rechtfertigen, beauftragen die Kammern immer wieder Studien[8], die zeigen sollen, wie sehr der Standort von dieser Symbiose profitiert. Reicht dies nicht mehr aus, wird auch Panikmache betrieben: Die Pflichtmitgliedschaft in der jeweiligen Institution wird für Unternehmen und Arbeitnehmer in Österreich gleichermaßen als alternativlos präsentiert. Das Bild einer Republik, die ohne diese Pflichtmitgliedschaft keine Kollektivverträge und keine gerechte Lohnfindung mehr hätte, ist jenes, das die Arbeitnehmer und Unternehmen in Angst und Schrecken versetzen soll.
Doch was hat es mit dieser Panikmache auf sich? Dass es nämlich auch anders ginge, zeigt sich in weiten Teilen Europas. Das „Institute for Advanced Labour Studies“ der Universität Amsterdam veranschaulicht in einem Vergleich von insgesamt 34 Ländern, dass das österreichische System der Lohnfindung das mit Abstand unflexibelste und am stärksten zentralisierte ist.
Fast alle anderen Länder Europas, darunter gut ausgebaute Sozialstaaten im Norden, regulieren die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ganz anders (weitere Details in der Agenda-Austria-Publikation „Kammern sind keine Pflichtübungen“[9]), bei einem insgesamt doch ziemlich erfolgreichen Wirtschaftsmodell.
Diverse Studien[10] zeigen, dass weder die Gewerkschaftsdichte noch die Dichte der Arbeitgebervertretung eine große Rolle für die Abdeckung durch Kollektivverträge spielt. Wie aber wirken sich Kollektivverträge in anderen Ländern auf Unternehmen aus, die nicht Mitglied einer Interessenvertretung sind? Die Universität Amsterdam zeigt in einer Untersuchung[11], dass in 13 der 41 untersuchten Länder kollektivvertragliche Regelungen automatisch auf Unternehmen ausgeweitet werden können, die nicht Mitglied einer Arbeitgeberorganisation sind. In weiteren zwölf Ländern werden vergleichbare Regeln ebenfalls angewandt, wenn auch seltener.
Politikwissenschaftler weisen immer wieder darauf hin, wie eng die Verflechtung zwischen den Interessenvertretern und der Politik ist. Nicht nur, dass etwa die Kammern regelmäßig mit direkten Aufträgen aus der Politik um Stellungnahmen und Reformen gebeten werden. Sie sind auch wichtige Machtbasen für die beiden traditionellen Großparteien ÖVP und SPÖ. So sehr die beiden Institutionen auch auf ihre autonome und selbstverwaltende Rolle pochen, so eng sind sie doch auch in den politischen Prozess verwoben. Die „rote“ Arbeiterkammer (SPÖ) und die „schwarze“ Wirtschaftskammer (ÖVP) beziehen dabei in der politischen Landschaft immer wieder klar Stellung. Ihre Interessen vertreten die Kammern also vielfach, nicht nur als Sozialpartner, sondern auch mit ihren Abgeordneten im Parlament, mit Regierungen, die ihnen nahestehen oder mit Sozialpartnern besetzt sind, und auch bei Regulierungsbehörden. Das führt dazu, dass die Kammern oftmals eine Mehrfachrepräsentation in den Bereichen der Politik, Ausarbeitung der Gesetze (Regierungsvertretung), Abstimmung der Gesetzesvorhaben (Parlament) und Begutachtung (Sozialpartner) innehaben.
Eine Analyse der Regierungen seit 1983 zeigt zudem, dass die Rolle der Sozialpartnerfunktionäre als Spitzenpolitiker ab 2007 eine gewisse Renaissance erlebte. Gerade in den großen Koalitionen aus SPÖ und ÖVP saßen regelmäßig erfahrene Kämmerer auch in den politischen Entscheidungspositionen. Doch nicht nur die Regierungspolitiker, sondern auch die für sie tätigen Kabinette sind eng mit dem Kammerstaat verflochten, wie eine Analyse der Rechercheplattform Addendum[12] zeigte.
Eine umfassende Untersuchung der politischen Verhältnisse[13] in Österreich zeigt die Verwicklung von Kammern und Politik eindrucksvoll auf. Seit dem Jahr 1945 wurde auf Basis einer Untersuchung der Biografien aller 242 Minister und Staatssekretäre Folgendes festgestellt: Sozialpartner-Funktionäre werden vor allem unter großen Koalitionen und Einparteienregierungen in Regierungsämter geholt und sind mit hoher Wahrscheinlichkeit in sozial- und wirtschaftspolitischen Ressorts tätig. Lediglich wenn die FPÖ Regierungspartner vertreten war, dann – so stellten die Autoren fest – war die Sozialpartnerschaft weniger stark vertreten. Auch in der letzten großen Koalition gab es fünf Kammerfunktionäre.
Die Studie weist nach, dass die Sozialpartnerschaft nahezu ohne Unterlass eine große politische Rolle spielt. „Insgesamt zeigt die empirische Untersuchung (…), dass der hohe Verflechtungsgrad, den deskriptive Untersuchungen aus vergangenen Jahrzehnten festgestellt haben, bis heute ein Charakteristikum der Beziehungen zwischen Sozialpartnern und Regierung ist.“
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