Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Das zumindest wird in fast allen öffentlichen Diskussionen behauptet und als gegeben hingenommen. So wie auch die Behauptung, dass Arme immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, als ein allgemein gültiger Befund wahrgenommen wird.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband[1] verkündete im Frühjahr 2015 sogar, dass die Armut in der Bundesrepublik Deutschland auf einem historischen Höchststand angekommen sei. Das Wort „historisch“ gilt allerdings nur für die Zeitspanne 2005 bis 2015. Wer diese Behauptungen zu hinterfragen gedenkt, macht sich verdächtig, ein Söldner des Kapitals zu sein. Dabei ist das Hinterfragen derartiger Pauschalbehauptungen durchaus hilfreich. Es zeigt nämlich, dass die Wohlfahrtssysteme deutlich besser funktionieren als von deren Proponenten gerne behauptet wird. Hätten sie nämlich mit ihren düsteren Befunden Recht, wären die Wohlfahrtsstaaten europäischer Prägung gescheitert. Deren Ziel war ja nicht die Erhöhung der Armut, sondern deren Verringerung.
Wovon aber ist die Rede, wenn in reichen Ländern heute von Armut gesprochen wird? Und ist es wirklich so, dass es den sozial Schwächeren in Ländern wie Österreich oder Deutschland so schlecht geht wie nie zuvor? Wer Armut hört, denkt unweigerlich an Obdachlose oder hungernde Kinder in unterentwickelten Ländern. Aber nicht daran, dass in wohlhabenden Ländern wie Österreich jeder siebte Mensch armutsgefährdet ist. Das liegt vor allem einmal daran, dass in Industrieländern andere Definitionen als in Entwicklungsländern gelten. Jeder Arme eines Entwicklungslandes wäre auch in Österreich arm, während viele der hierzulande als armutsgefährdet Geltende in unterentwickelten Ländern zum Mittelstand gehörten. In Österreich waren 2013 1,2 Millionen Menschen armutsgefährdet – aber nicht obdachlos. Ganz im Gegenteil, Obdachlose werden in der Statistik nicht einmal berücksichtigt, weil sie über keinen offiziellen Haushalt verfügen und somit von der Statistik nicht erfasst werden.
Wer weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat, gilt weltweit als arm. Diese stark benachteiligten Menschen können die elementaren Bedürfnisse des Lebens – Ernährung und Wohnraum – nicht decken. Da sich die Lebenshaltungskosten aber zwischen den Ländern erheblich unterscheiden, wird dieser Wert über die Kaufkraft in den Ländern definiert. Auch geht es ab einem gewissen Wohlstandsniveau der Gesellschaft nicht mehr nur um die Sicherung von Wohnraum und Ernährung. In den Industrienationen kommen deshalb vermehrt relative Armutsdefinitionen zum Einsatz. Wenn in Österreich über Armut gesprochen wird, geht es im Grunde um drei Definitionen von Armut und sozialer Ausgrenzung:
Als armutsgefährdet gelten alle Personen, deren verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens[2] erreicht. Es handelt sich hierbei um jene Personen, deren Einkommen deutlich (40 Prozent) unter dem mittleren äquivalisierten[3] Nettohaushaltseinkommen (nach Steuern und Transfers) liegen. Anders ausgedrückt: Personen, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben.
Von materieller Deprivation wird gesprochen, wenn drei der folgenden neun Merkmale zutreffen.
Wer also weniger als 1.000 Euro angespart hat, sich keinen PKW und keinen Urlaub leisten kann, ist von materieller Deprivation betroffen. Das gilt zum Beispiel für viele Studentenhaushalte, deren Bewohner sich wundern würden, wenn sie wüssten, dass sie, statistisch gesehen, von sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Werden gar vier der erwähnten Kriterien erfüllt, ist von erheblicher materieller Deprivation die Rede.
Leben Menschen in Haushalten unterhalb der Armutsschwelle oder in materieller Deprivation oder mit geringer oder keiner Erwerbsbeteiligung, werden sie als ausgrenzungsgefährdet bezeichnet.
Geringe oder keine Erwerbsbeteiligung im Haushalt ergibt sich dann, wenn die Haushaltsmitglieder weniger als 20 Prozent ihres möglichen Arbeitspotenzials ausschöpfen.[4]
Unter Berücksichtigung dieser drei Aspekte sind in Österreich laut EU-SILC[5] rund 1,6 Millionen Personen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet[6]. Wobei auf sechs Prozent von ihnen alle drei Indikatoren zutreffen. 2013 waren das 97.000 Personen.
Als armutsgefährdet gilt hierzulande ein Singlehaus- halt mit einem verfügbaren Einkommen unterhalb von 1.161 Euro pro Monat. Also nach Abzug von Steuern und inklusive aller Transfers. Diese Summe entspricht 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommens). Sie entspricht einem Erwerbseinkommen von 1.418 Euro (1.858 Euro inklusive Arbeitgeberanteil) vor Steuern im Monat.[7]
Die Armutsgefährdung ist laut Eurostat kein Indikator für Wohlstand oder Armut.[8] Sie misst also weniger die Armut im eigentlichen Sinn als das Verhältnis der unteren Einkommen zum Medianeinkommen. Das ist insofern wichtig, weil diese Art der Messung zu kuriosen Ergebnissen führen kann. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass ein abruptes Absinken aller Einkommen im gleichen Ausmaß an der Armutsgefährdung nichts ändern würde. Und das, obwohl sich alle weniger leisten könnten, also deutlich ärmer wären. Dasselbe gilt, wenn alle Einkommen im selben Ausmaß steigen würden, also alle mehr Geld zur Verfügung hätten. In Irland etwa ist die Armutsgefährdung seit Ausbruch der Krise im Jahr 2008 bis zum Jahr 2013 um 1,4 Prozentpunkte gesunken. Der Grund dafür ist nicht, dass Menschen plötzlich mehr Geld zur Verfügung gehabt hätten, sondern dass das jährliche Medianeinkommen um 2.400 Euro gesunken ist, der Rückgang bei den unteren Einkommen aber weniger stark war. Den schlechter Verdienenden in Irland geht es 2013 im Vergleich zu 2008 also verhältnismäßig weniger schlecht als den Beziehern mittlerer Einkommen. Aber auch die Ärmeren können sich weniger leisten als vor der Krise.
Österreich hat eine deutlich bessere wirtschaftliche Entwicklung als Irland hinter sich. Mit der Folge, dass die verfügbaren Haushaltseinkommen gewachsen sind – und damit die Einkommensschwelle, ab der hierzulande jemand als armutsgefährdet gilt. Seit 1999 ist diese Grenze um 61,5 Prozent gestiegen, während das allgemeine Preisniveau „nur“ um 36 Prozent zugelegt hat.[9] Das verfügbare Nettoeinkommen ist also fast doppelt so schnell gestiegen wie die allgemeinen Preise. Eine Person, die heute an der Armutsgefährdungsgrenze lebt, kann sich um ein Viertel mehr an Produkten leisten als jemand, der 1999 an dieser Schwelle stand.
Auffallend ist, dass man in Österreich besonders schnell armutsgefährdet ist: Lediglich Luxemburg, Norwegen und die Schweiz haben noch höhere Armutsgrenzen als Österreich. Dies bedeutet, dass ein Österreicher, der knapp unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt, in Deutschland, Dänemark, Finnland oder den Niederlanden nicht als armutsgefährdet gelten würde. Erfreulicherweise ist die Armutsgefährdung in Österreich seit Ausbruch der Krise dennoch rückläufig:
Es ist Österreich also seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise gelungen, die Armutsgefährdung von 15,2 auf 14,1 Prozent zu reduzieren. Das trotz einer rasant gestiegenen Einkommensschwelle, ab der hierzulande jemand als armutsgefährdet gilt. Während auf europäischer Ebene die Armutsgefährdung zunimmt. Es ist also nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Umverteilung im österreichischen Sozialstaat durchaus Erfolge aufweisen kann. Viel Geld wird umverteilt, das sein Ziel auch erreicht. Unberührt von diesem Befund bleibt die Frage, ob mit den jährlich umverteilten Milliarden (2014: mehr als 90 Milliarden Euro) nicht mehr Menschen aus Armut und Ausgrenzung zu befreien wären, als das derzeit der Fall ist.
Fußnoten
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