Die EU-Fiskalregeln geraten immer mehr unter Beschuss. Doch eine Aufweichung wäre das falsche Signal zur falschen Zeit.
Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einer verkehrsberuhigten Zone. Aber leider halten sich viele nicht an das Tempolimit und werden regelmäßig von der Radarfalle geblitzt. Stellen Sie sich weiter vor, dass man darauf nicht etwa mit mehr Kontrollen oder baulichen Maßnahmen zur Geschwindigkeitsreduktion reagiert. Nein. Stattdessen wird lamentiert, dass die Tempolimits nicht einzuhalten seien. Die häufigen Verstöße seien Beweis genug dafür. Verrückt, oder? In der EU-Finanzpolitik leider Realität.
Seit Jahren verletzen einige Mitgliedsstaaten immer wieder EU-Fiskalregeln. Ein gutes Beispiel ist Griechenland. Es hat die bestehenden Regeln in der Vergangenheit so eklatant verletzt, wie man es vorher kaum für möglich hielt. Nur um Mitglied des Euroraumes werden zu können. Jetzt ist es bis über beide Ohren verschuldet. Diesen teuren Fehler wird die griechische Bevölkerung noch Jahrzehnte lang abbezahlen müssen. Aus den Fehlern anderer kann man zwar lernen und klüger werden. Doch Italien schwebt wohl eher vor, das griechische Beispiel noch zu überbieten. Man versucht in Italien scheinbar zusätzlich jene Regeln zu verletzen, die als Lehre aus der griechischen Tragödie aufgestellt wurden. Nicht nur, dass Italien seit annähernd 40 Jahren einen Schuldenstand von über 60 Prozent der Wirtschaftsleistung aufweist und in den vergangenen 20 Jahren neun Mal die Defizitgrenze von drei Prozent überschritten hat. Nein, es hat vor drei Jahren auch versucht, die erlassenen Kontrollmechanismen zu umgehen und den italienischen Fiskalrat zu marginalisieren. Die EU verlangt eine Zustimmung einer unabhängigen Institution zur Einschätzung der fiskalischen Situation. Italien hielt eine Begründung der Regierung, wenn es zu abweichenden Einschätzungen kommt, für ausreichend. Ein Ansinnen, das vom zuständigen EU-Kommissar Dombrovskis rasch gestoppt wurde.
Doch seit Beginn der Corona-Krise gesellen sich immer mehr Länder in den Verschuldungsclub. Im Jahr 2020 wiesen 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten einen Schuldenstand auf, der den Maastrichtgrenzwert von 60 Prozent relativ zum BIP übersteigt. Natürlich sind einige Länder, wie Österreich und Deutschland, aufrichtig bemüht, ihren Schuldenstand in den kommenden Jahren deutlich in Richtung der 60 Prozent zu reduzieren. Doch man gewinnt den Eindruck, dass mit Ausnahme der Frugalen Vier, zu denen auch Österreich zählt, die Mehrheit der EU-Länder für eine Aufweichung der Schuldenregeln eintritt. Das wäre das falsche Signal zur falschen Zeit.
Warum ist das so? Weder Griechenland noch Italien könnten ihre hohen Schulden bei laxeren Fiskalregeln besser bedienen. Auch eine weitere Übernahme der Schulden durch die EU-Gemeinschaft wäre kein gutes Signal. Die Botschaft wäre klar: Ihr könnt euch so stark verschulden, wie ihr wollt. Am Ende zahlen das eh die anderen. Damit würde die EU-weite Solidarität überstrapaziert werden. In einer Solidargemeinschaft steht man zwar Schwächeren bei. Man lässt sich aber nicht von Trittbrettfahrern ausnutzen.
Statt die EU-Fiskalregeln dauerhaft auszusetzen oder aufzuweichen, sollten sie wieder ernster genommen werden. Wer wie Dänemark, Schweden oder die Niederlande die Schulden nicht in die Höhe wachsen lässt, sondern in guten Zeiten wieder rasch reduziert, droht erst gar nicht in finanzielle Schieflage zu kommen. Gerade dann besteht der finanzielle Spielraum in der nächsten Krise gegensteuern zu können. Das war im Übrigen auch das Ziel der EU-Fiskalregeln. Für nachhaltige Finanzen in der EU sollte das auch weiterhin unsere Richtschnur bleiben.
Ein Gastkommentar von Marcell Göttert für “Die Presse” (11.11.2021).
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