Wie können in Österreich so viele in bitterer Armut leben?
- 01.10.2023
- Lesezeit ca. 4 min
Wieder einmal wird leidenschaftlich darüber diskutiert, warum viele Kinder keine warme Mahlzeit am Tag bekommen. Das wirft Fragen auf.
Das Thema Armut verträgt in der öffentlichen Debatte mittlerweile nur noch eine Meinung: Die Armen werden immer ärmer – und sie werden immer mehr. Wer diesen Befund hinterfragt oder gar bezweifelt, wird als kaltherziger Zyniker abgekanzelt, der vom „Leben da draußen“ keine Ahnung habe. Dasselbe Schicksal droht jenen, die sich fragen, wie es in einem Staat, der ein Drittel (!) des jährlich Erwirtschafteten in sein Sozialsystem steckt, so viele bitterarme Menschen geben soll.
Diese eindimensionale Sicht der Dinge ist ein Problem, weil damit weder die Leistungen des Sozialstaats gewürdigt, noch seine Schwachstellen ausgeleuchtet werden. Mit dem Ergebnis, dass zwar immer mehr öffentliches Geld für die Bekämpfung der sozialen Not ausgegeben wird, am Ende aber trotzdem alle unzufrieden sind. Die einen, die an vorderster Front in den Sozialmärkten stehen und sehen, dass die Armut nicht besiegt ist. Oder die vielen Lehrkräfte, die in einkommensschwachen Schulsprengeln unterrichten und mitbekommen, wie Eltern ihre Kinder von der Verpflegung abmelden, weil ihnen die 5 Euro 50 für das warme Mittagsmenü zu teuer sind – oder das Geld bereits anderweitig ausgegeben wurde.
Und dann sind da noch jene Menschen, die tagtäglich Vollzeit zur Arbeit gehen. Sie sorgen mit ihren Steuern und Sozialbeiträgen dafür, dass die Schwächsten der Gesellschaft ein Leben ohne Not führen können. Diese Steuerzahler dürfen sich nahezu täglich anhören, dass ihre horrenden Beiträge nicht reichen, weil es in diesem Land noch immer Kinder gibt, die kein warmes Essen bekommen. Sie fragen sich, wie das möglich sei in einem Land, das die großzügigste soziale Grundsicherung und die höchste Familienförderung weltweit ausbezahlt. Sie nehmen die Eltern in die Pflicht, und aus ihrer Sicht wäre Mehrarbeit durchaus eine Option, um die Wucht steigender Preise abzufangen. Sie hören ihren Nachbarn zu, wenn sie sich lautstark über das kaum noch leistbare Leben beklagen, aber gleichzeitig die Arbeitszeit reduzieren, um Leben und Job in die richtige Balance zu bringen. Ihnen bleibt nicht verborgen, dass sich Arbeitskollegen ein Jahr auf Staatskosten „weiterbilden“ – ohne auch nur einen überzeugenden Nachweis dafür liefern zu müssen, dass es sich dabei nicht großteils um eine von der Allgemeinheit bezahlte Auszeit handelt.
Das Besondere ist, dass diese beiden scheinbar verfeindeten Lager ein und dasselbe Problem besprechen: Die Dysfunktionalität des österreichischen Sozialstaats, der jährlich 140 Milliarden Euro aufwendet, um den Menschen ein Leben ohne Not zu ermöglich. Die einen kritisieren indirekt, dass das Geld nicht dort ankommt, wo es am dringendsten benötigt wird. Andernfalls gäbe es keinen Grund, über hungernde Kinder zu diskutieren. Die anderen wiederum benennen jene Fehlanreize, die Leistungsfähige zur Tatenlosigkeit animieren – etwa ein staatliches Steuersystem, das die Teilzeit belohnt und die Vollzeit bestraft.
Der Steuerberater Gottfried Schellmann hat unlängst im „Kurier“ vorgerechnet, dass eine mittellose Familie mit drei Kindern in Wien in der Sozialhilfe auf knapp 40.000 Euro netto im Jahr kommen kann. Das wären für einen Arbeitnehmer knapp 78.000 Euro an „brutto-brutto“ (Arbeitskosten). Selbst überzeugte Befürworter eines umfassenden Sozialstaats werden erkennen, dass so eine Alimentation keine überzeugende Einladung darstellt, einer Erwerbsarbeit nachzugehen.
Tatsächlich gibt es in Österreich rund 220.000 Personen, die in Armut leben. Die Zahl ist zu hoch, aber seit vielen Jahren weitgehend konstant. Gemeint sind Menschen, denen es am Nötigsten fehlt, weil sie aus den unterschiedlichsten Gründen von der Solidargemeinschaft nicht erreicht werden, sondern – wenn überhaupt – nur noch von einer der vielen Hilfsorganisationen. Noch mehr Geld würde daran nichts ändern.
Und ja, es gibt in diesem Land viele Menschen, die trotz Erwerbsarbeit kaum noch über die Runden kommen. Aber deshalb muss man nicht gleich so tun, als stünde das halbe Land am Rande einer Hungersnot. Das ist nicht der Fall.
Der Sozialstaat funktioniert deutlich besser, als das seine leidenschaftlichsten Verfechter wahrhaben wollen. Für die Kosten, die es verursacht, funktioniert das Sozialsystem allerdings nicht gut genug.
Kommentar von Franz Schellhorn für die “Presse” (30.09.2023).
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