Der Erfolg der Schweiz

Gastbeitrag von Gerhard Schwarz

Die halbdirekte Demokratie

Die Bürger haben nirgendwo sonst auf der Welt so viel zu sagen wie in der Schweiz, nicht nur mit viermal jährlich mehreren Sachabstimmungen, sondern auch bei Wahlen.

Die meisten Beobachter halten die halbdirekte Demokratie – wir haben ja neben dem Volk doch auch ein Parlament – für die wichtigste Besonderheit der Schweiz. Ich halte sie auch für wichtig und für das am wenigsten schlechte politische System der Welt, obwohl ich, wie immer, wenn man nahe dran ist, um die vielen Schwächen des Systems weiss. Trotzdem: die Bürger (seit 1971 auch die Bürgerinnen) haben nirgendwo sonst auf der Welt so viel zu sagen wie in der Schweiz, nicht nur mit viermal jährlich mehreren Sachabstimmungen, sondern auch bei Wahlen. Sie können Kandidaten streichen, anderen eine zweite Stimme geben, Personen von anderen Parteien auf die abgegebene Liste setzen. Bei städtischen und kantonalen Regierungswahlen bestimmen sie mittels Majorz direkt die Regierungsmitglieder, sodass die politische Zusammensetzung der Regierung oft von der des Parlaments abweicht.

Das fördert den Kompromiss und ist ein erster Vorteil der halbdirekten Demokratie. Ich nenne weitere fünf.

  • Die Direkte Demokratie erlaubt es, zweitens, die Vielfalt des Landes besser abzubilden, als wenn man nur alle paar Jahre zwischen Wahlprogrammen und Spitzenkandidaten wählen kann.
  • Drittens kennt die gelebte Praxis der halbdirekten Demokratie keine Tyrannei der Mehrheit. Die Unterlegenen werden selten überfahren, man kommt ihnen aus Erfahrung und Klugheit entgegen. Zu vielen Initiativen macht die Regierung einen sogenannten Gegenvorschlag, der einen Teil des Anliegens aufnimmt, einfach weniger radikal, und deshalb oft die Mehrheit hinter sich scharen kann.
  • Viertens geniessen Entscheide in Volksabstimmungen trotz der zum Teil tiefen Stimmbeteiligung von weit unter 50 Prozent eine hohe Legitimation. Die selektive Partizipation ist rational: nur wenn man betroffen ist, lohnt es sich, sich zu engagieren.
  • Fünftens sind Initiativen ein Frühwarnsystem. Oft bringen sie Anliegen vor, die in parlamentarischen Demokratien versickern und ausgebremst werden. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass «empörende» Abstimmungsergebnisse manchmal Jahre später in den Nachbarländern aufs Tapet kommen. Wahrscheinlich haben die in ihrer Wirkung oft nur symbolischen Ausrutscher – Stichwort Minarettverbot – der Schweiz viel Politikverdrossenheit erspart, aber auch das Auftauchen unappetitlicher Parteien sowie von Aggression und Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern, zumal gegenüber Muslimen.
  • Sechstens schliesslich widerlegt die Schweiz die beliebte These, das Volk sei anfällig für Populismus und nicht kompetent, komplexe Themen zu durchschauen und sachgerecht zu beurteilen. Natürlich kommt es zu Entscheiden, die viele Experten für falsch halten, die internationalen Mehrheitsmeinungen widersprechen oder die im Rückblick auch von der Mehrheit des Volkes bedauert werden. Aber ist das in parlamentarischen Systemen anders? Die Schweiz muss sich ihrer Abstimmungsergebnisse nicht schämen; das Volk hat nicht mehr Fehler als die Parlamente der Nachbarn gemacht und war, von wenigen Abstimmungen abgesehen, erstaunlich wirtschaftsfreundlich. Von 131 Initiativen wirtschaftlichen Inhalts zwischen 1945 und 2015 waren zwar 128 gegen die Interessen der Wirtschaft gerichtet, meist von Sozialisten, Gewerkschaften und Grünen unterstützt. Aber nur 7% wurden vom Volk gutgeheissen.

FABRICE COFFRINI / AFP / picturedesk.com

Viele positive Auswirkungen

Das Dreigestirn – Genossenschaft, Föderalismus und direkte Demokratie – führt dazu, dass in der Schweiz doch einiges besser oder eher: weniger schlecht läuft.

Das Dreigestirn – Genossenschaft, Föderalismus und direkte Demokratie – führt dazu, dass in der Schweiz doch einiges besser oder eher: weniger schlecht läuft.

  •  Das Verhältnis Bürger-Staat ist durchgehend ein anderes. Ich hatte in vielen Ländern der Welt mit staatlichen Ämtern zu tun, in Kolumbien, den USA, Frankreich, Österreich und der Schweiz. Da liegen Welten dazwischen, im mündlichen und schriftlichen Umgangston, im Amtsverständnis. Für Normalbürger wie mich ist in der Schweiz das Steueramt eigentlich der beste Steuerberater, es ist keine angsteinflössende Institution und ich bin weder Untertan noch von vornherein der Steuerhinterziehung verdächtig. Oder eine jüngste Erfahrung: Ich benötigte in Zürich einen neuen Pass. Termin Donnerstag 10 Uhr. Ich war um 9.57 Uhr vor Ort. Fotographie, Fingerabdrücke, Bezahlung. Um 10.04 verliess ich das Büro. Am nächsten Tag um 11 Uhr brachte der Postbote den neuen Pass nach Hause.
  • Es herrscht mehr Nähe des Staates zu den Unternehmen, und zwar nicht nur in der Phase einer Ansiedlung. Der Wegzug oder der Verzicht auf einen weiteren Ausbau eines Unternehmens tun in Gemeinden und kleineren Kantonen sehr schnell einmal weh. Das fördert politisches Augenmass, Unternehmensfreundlichkeit und Kundenorientierung.
  • Mitentscheiden und non-zentrale Struktur, übrigens auch der Wirtschaft, führen zu weniger Klassenkampf. Sie führen auch zu mehr Bodenständigkeit, mehr Verständnis für die Nöte und Anforderungen der Wirtschaft, nicht genug zwar, aber zumindest mehr.
  • Die Staatsquote wird mehr gebremst. Wenn das Volk über staatliche Ausgaben entscheidet und das dann an der Steuerbelastung spürt, wird das Geld weniger leicht ausgegeben. Und der Steuerwettbewerb zwingt jeden Kanton, jede Gemeinde dazu, den Haushalt so zu gestalten, dass die Steuerzahler nicht abwandern.
  • Auch in Sachen Regulierung wirkt die Kleinräumigkeit bremsend. Zwar verursacht der Wirrwarr von Regeln zusätzliche Kosten, aber dem stehen mehr Bürgernähe sowie, dank dem Milizsystem, also der geringen Professionalisierung der Politik, mehr Praxisnähe gegenüber. Und auch der Wettbewerb wirkt sich auf die Regulierungen mässigend aus.
  • Vielleicht für Sie überraschend halte ich die Trägheit des schweizerischen Systems je länger, je mehr für einen Vorteil, vielleicht für den grössten. Die Prozeduren der direkten Demokratie dauern unglaublich lang. Bei Volksinitiativen vergehen vom Artikulieren des Anliegens über das Sammeln der Unterschriften und die Volksabstimmung bis zur Umsetzung auf Gesetzesstufe Jahre, Referenden bremsen den Elan von Regierung und Parlament ohnehin, und beide zwingen mit ihrem Drohpotential das Parlament zu vorauseilender Kompromissbereitschaft. Natürlich nervt das, wenn man selbst lieber weiter gegangen wäre. Aber da ich ziemlich agnostisch das Gefühl habe, Parlament und Regierung produzierten überall im Durchschnitt bestenfalls gleich viele gute wie schlechte Vorlagen, führen Trägheit und Verzögerung nicht zu schlechteren Resultaten. Sie bremsen gleich viele gute wie schlechte Gesetze. Sie bewirken aber mehr Stabilität und mehr Berechenbarkeit. In meinen pessimistischeren Phasen, wenn ich das Gefühl habe, der Mainstream bewege sich so oder so Richtung mehr Staat und weniger Freiheit für Individuen und Unternehmen, ist jede Verzögerung ohnehin wertvoll. Und so schliesse ich nur leicht ironisch mit einer Kürzestantwort auf die Frage nach den Gründen für den Schweizer Erfolg in der selbst in der viersprachigen Schweiz modernen lingua franca: You can not go slow enough in the wrong direction.

Ein Gastbeitrag von Dr. Gerhard Schwarz, vorgetragen bei der Agenda Austria am 2. März 2023 in Wien.

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