Innenpolitik

“Die Politik ist wahnsinnig weit nach links gerutscht”: Interview mit Franz Schellhorn

Franz Schellhorn im KURIER-Gespräch: Warum der Direktor der Agenda Austria vehement gegen Vermögenssteuern ist und keinen "starken" Rechtsruck in Europa sieht.

KURIER: Die Agenda Austria attestiert Türkis-Grün „fünf verlorene Jahre“, weil Österreich von 2019 bis 2024 das schwächste Wirtschaftswachstum pro Kopf hatte. Der Bundeskanzler hält das für unseriös, da Österreich aufgrund der Migration stark gewachsen sei. Zurecht?

Franz Schellhorn: Man kann natürlich alle Migranten aus der Statistik rausrechnen, um ein freundlicheres Bild zu bekommen. Aber sie sind nun einmal da und selbst ohne sie sähe das Bild nicht viel besser aus. Österreich wäre nicht mehr Letzter, sondern Viertletzter. Der wahre Grund, warum Österreich nicht mehr wächst, versteckt sich in den Haushalten der autochthonen Bevölkerung. Zu viele Menschen arbeiten zu wenig.

Nehammer argumentiert, dass die Kaufkraft trotz Krise erhalten wurde. Was kann die Regierung dafür, dass die Menschen zu wenig ausgeben?

Das stimmt. Österreich erwartet heuer bei den Reallöhnen hinter Dänemark die zweithöchste Kaufkraft-Steigerung in Europa. Warum die Menschen das Geld aber nicht in die Geschäfte tragen, ist relativ schnell erklärt: Weil sie in den Betrieben sehen, dass Aufträge wegbrechen, Produktionen verlagert und Kollegen gekündigt werden. Und das hebt nicht unbedingt die Konsumlaune.

Die Treibhausgasemissionen sinken. Sind das die positiven Nebenwirkungen der grünen Regierungsbeteiligung, wie Klimaministerin Leonore Gewessler behauptet?

Was in Österreich klimapolitisch wirkt, ist in erster Linie der EU-Zertifikatehandel. Damit bekommt Verschmutzung einen Preis, der als Regulativ wirkt. Bei der Treibhausgasbilanz befürchte ich aber, dass ihr größter Helfer ein nicht gerne gesehener Geselle war, nämlich der Rückgang der Wirtschaftsleistung.

Sie kennen die Wirtschaftsprogramme der Parteien. Wer überzeugt Sie, wer nicht?

Mit wenigen Ausnahmen lesen sie sich ganz passabel. Entscheidend ist, was davon nach der Wahl, bei den Regierungsverhandlungen, übrig bleibt. Deshalb bin ich da ein bisschen vorsichtig. Heuer fällt auf, dass alle entlasten wollen. Aber so gut wie keiner will den Staatshaushalt sanieren und das macht mich schon ein bisschen stutzig.

Steuern senken wollen ÖVP, FPÖ und Neos. Gibt es auch Aspekte im SPÖ-Programm, denen Sie etwas abgewinnen können?

Bei der SPÖ habe ich mich wirklich bemüht, bin aber leider nicht fündig geworden. Andere Parteien wollen die Steuern senken, das ist sicher die richtige Idee. Aber zuerst muss das Budget saniert werden. Allein im ersten Halbjahr hat die Regierung um 14 Milliarden Euro mehr ausgegeben als sie eingenommen hat, das ist deutlich über den Maastrichtkriterien. Wenn ich jetzt entlaste und das Budget nicht im Griff habe, ist die Entlastung die Steuererhöhung von morgen.

Im Wahlkampf hat niemand ein richtiges Sparpaket angekündigt. Wo könnte man am ehesten den Sparstift ansetzen?

Österreich hat schon länger extrem hohe Staatsausgaben. Gemessen am BIP liegen wir deutlich über der 50-Prozent-Marke. Die müssen wir wieder unterschreiten. Wir schlagen schon lange eine Ausgabenbremse wie in Schweden oder der Schweiz vor. Das würde die Bevölkerung vor Politikern schützen, die mit den hohen Staatsausgaben ihre Karrieren absichern.

Welche Förderungen könnte man abschaffen?

Zuerst die Corona-Förderungen und die Teuerungshilfen. Dann müsste man sich die viel zu hohen Unternehmenssubventionen und die Landwirtschaftsförderungen anschauen. Klimaschädliche Subventionen, die Umweltverschmutzung begünstigen, sind auch nicht schlüssig.

Was würde dem Standort aus Ihrer Sicht eher schaden: Eine Regierungsbeteiligung der Kickl-FPÖ oder der Babler-SPÖ? 

Alles, was ich jetzt sage, könnte uns als negative Wahlempfehlung ausgelegt werden. Da halten wir uns immer gerne zurück, weil wir parteipolitisch äquidistant sind.

Österreich gehört zu den reichsten Ländern der EU, liegt bei Substanzsteuern je nach Statistik aber maximal im Mittelfeld. Hat die SPÖ nicht einen Punkt, wenn sie sagt, das sei ungerecht?

Das Münchner Ifo-Institut hat berechnet, dass nach acht Jahren bei einer einprozentigen Vermögenssteuer die Steuerausfälle doppelt so hoch wären wie die Steuereinnahmen. Weil inländische Unternehmen um 10 Prozent und ausländische um 20 Prozent weniger investieren. Unterm Strich sind Vermögenssteuern also ein Negativgeschäft für den Staat. Wer diese Steuer will, will sie nur aus ideologischen Gründen. Die zentrale Frage lautet aber nicht: Warum haben einige wenige so viel – sondern warum haben so viele Menschen so wenig Eigentum? Hier sollten wir ansetzen. Nur der Vermögensaufbau der breiten Masse verbessert die Verteilung – und dazu braucht es einen weniger stark besteuernden Staat. 

Und Erbschaftssteuern?

Bevor wir das Ausgabenloch des Staates nicht stopfen, sollten wir generell nicht über höhere oder neue Steuern diskutieren. Abgesehen davon finden die Erbschaftssteuer in Österreich zu Recht viele nicht fair.

Und wenn man im Gegenzug zu Vermögenssteuern die Lohnnebenkosten senkt? Davon profitieren auch Arbeitgeber. Selbst Hans Peter Haselsteiner meint, den “Gstopften“ müsse der soziale Friede etwas wert sein.

Das hören wir schon lange. Nur funktioniert es blöderweise meistens umgekehrt: De Belastung kommt, auf die Entlastung wird vergessen. Abgesehen davon müsste das Steueraufkommen enorm sein, die Arbeitskosten liegen mittlerweile bei über 100 Milliarden Euro. Man müsste bei den Vermögenssteuern tief in den Mittelstand reinschneiden, um hier größere Summen zu bewegen. Hans Peter Haselsteiner würde bestimmt im Land bleiben, aber ich fürchte, andere würden das nicht tun. 

Gibt es Belege für Kapitalflucht durch Vermögenssteuern?

Wir haben es in Norwegen und Frankreich gesehen, die Berechnungen des Ifo-Instituts zeigen es auch. Und dem glaube ich eher als der Arbeiterkammer. Übrigens hat auch Österreich bereits einen extremen Kapitaltransfer außer Landes. Allein die Diskussion um die Vermögenssteuer schafft Kapitalabfluss. Wir haben bereits den Schaden, ohne Aussicht auf den Steuererfolg.

Laut der Nationalbank wird die Wirtschaft heuer wieder schrumpfen. Wir sind bereits mit steigender Arbeitslosigkeit und Anzeichen einer Deindustrialisierung konfrontiert. Was muss nach der Wahl wirtschaftspolitisch passieren?

Erstens muss der Staat seine Ausgaben in den Griff bekommen, sonst verliert er an Glaubwürdigkeit und damit das Vertrauen der Investoren. Zweitens braucht Österreich dringend eine Deregulierungsoffensive. Nicht die Steuern beschäftigen die Unternehmen am meisten, sondern die wöchentlich neu eintrudelnden Regulierungen. Bekommt man das nicht in den Griff, wird früher oder später die gesamte Wirtschaftspolitik obsolet sein.

Auf welche Schlüsselindustrien sollte Österreich künftig setzen?

Wir sind nach wie vor sehr innovativ und anpassungsfähig. Das Hauptproblem: Mittlerweile ist ein gewisser Defätismus zu spüren und das ist die größte Bedrohung für Europa. Viele Unternehmen glauben nicht mehr an den Standort Österreich und die Zukunft Europas. Und wer eine Idee für die Technologien von morgen hat, geht ins Ausland, insbesondere in die USA. 

Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi schlägt der EU vor, jährlich 800 Milliarden Euro in die Industrie zu pumpen. Benötigen die EU-Staaten Gegenschuss zum IRA, um konkurrenzfähig zu bleiben?

Das ist ein super Beispiel: Mario Draghi liefert die messerscharfe Analyse, dass wir zu wenig Investitionen in Zukunftstechnologien und zu viel Bürokratie in Europa haben. Und seine Antwort ist eine höhere staatliche Verschuldung in Form von Eurobonds, statt eine radikale Deregulierung der Wirtschaft. Draghis Therapie verschlimmert das Leiden des europäischen Patienten.

Welche Konsequenz sollte die EU stattdessen ziehen?

Sie sollte sich genau anschauen, welche Regulierungen sie streichen kann. Wie wäre es der Verpackungsverordnung, dem Lieferkettengesetz oder der Entwaldungsrichtlinie? 

Auch der gemeinsame Kapitalmarkt fehlt.

Immerhin den spricht Draghi an. Warum wird derzeit in Europa nicht in neue Technologien investiert? Weil kluge Köpfe mit ihrer Idee zur Bank gehen müssen, die ihr Risiko wegen der strengen Regulierungen nicht finanzieren darf. Europas Wirtschaft finanziert sich zu 75 Prozent über Banken und zu 25 Prozent über den Kapitalmarkt. In Amerika ist es genau umgekehrt, deshalb gehen die jungen Start-up-Gründer reihenweise dorthin. In Amerika werden sie mit Risikokapital überhäuft, insbesondere von den großen Pensionsfonds. Genau das fehlt uns.

Aber können wir da wirklich große Würfe erwarten? Europa wirkt immer isolationistischer, auch die Christlichsozialen sperren sich gegen Freihandel.

Die Freihandelsskepsis der Christlichsozialen ist schon fast beängstigend, vor allem gegenüber Südamerika. Die Chinesen warten nur darauf, dass uns die südamerikanischen Länder aus den Verhandlungsräumen schmeißen. China hat schon die größte Freihandelszone in Asien und halb Afrika unter ihrer Kontrolle. Und wir Europäer, die mit Freihandel groß geworden sind, glauben, das nicht mehr zu brauchen. Wir wollen ja auch mit den USA und Australien keinen zollfreien Handel. Es ist erschütternd.

Woran scheitert es da? Am Mindset, am Weltbild?

Es hat sehr viel damit zu tun, dass die Anti-Freihandels-Lobbys super Arbeit leisten. Sie haben fast kein Gegengewicht und erzählen eine Schauergeschichte nach der anderen. Keine hat sich bewahrheitet. Unser Handelsabkommen mit Kanada funktioniert problemlos und es gibt kein Chlorhuhn auf österreichischen Tellern. 

Bei der EU-Wahl sind die Rechtspopulisten europaweit stärker geworden, die FPÖ könnte nun erstmals eine Nationalratswahl gewinnen. Was ist der Grund für den Rechtsruck in Europa?

Der Rechtsruck ist gar nicht so stark. Die Bevölkerung steht noch dort, wo sie immer gestanden ist, nämlich weitgehend in der Mitte. Ich glaube vielmehr, dass die Politik wahnsinnig weit nach links gerutscht ist: mit der Gender-Problematik, mit den vielen Bevormundungen, den täglichen Umerziehungsversuchen, den unzähligen Regulierungen und einer gehörigen Naivität in Sachen Migration.

Und was erwartetet sich die gesellschaftliche Mitte von der Politik?

Nach wie vor einen guten Job und gute Schulen. Und sie wollen sich frei bewegen, ohne fürchten zu müssen, dass jemand ein Messer zieht. Doch die demokratische, politische Mitte hat auf diese Fragen kaum noch Antworten, insbesondere bei der Migration. Deshalb verliert sie die Menschen an linke und rechte Extreme. Die Stärke der FPÖ ist vor allem dem Migrationsthema geschuldet.

Aus Ihrer Sicht sehen wir jetzt also die Auswirkungen der kommunikativen und politischen Fehler der Migrationskrise 2015?

Ja. Damals hat die Politik gesagt, es wird die qualifizierteste Zuwanderungswelle in der Geschichte des Landes sein. Eingetreten ist genau das Gegenteil. 

Benötigt Österreich eine Asyl-Obergrenze? Sollte man gar nur noch qualitativen Zuzug zulassen?

Österreich braucht Zuwanderung – allerdings in die Arbeitsmärkte, nicht in die Sozialsysteme. Es kann nicht mehr sein, dass jemand ohne Papiere an der Grenze steht, Asyl beantragt, es nicht bekommt und dann dauerhaft im Land und im Grundversorgungssystem bleibt, weil er nicht abgeschoben werden kann. Es kann auch nicht sein, dass hohe Sozialleistungen Asylberechtigte vom Arbeitsmarkt fernhalten. Das muss man ändern. Die Menschen sind auch nicht prinzipiell gegen Zuwanderung, sie sind aber gegen eine unkontrollierte Zuwanderung.

Also sind die Österreicher gar keine rückständigen Isolationisten?

Nein. Ich denke eher, dass wir immer noch den naiven Vorstellungen einer multikulturellen Gesellschaft von 2015 erliegen, die sich einfach nicht erfüllen lassen. Diese Naivität muss man ablegen, sonst regieren in Europa bald nur noch autoritäre Regime.

Sie äußern sich öffentlich zu vielen Themen, wie definieren Sie eigentlich Ihre Rolle? Ökonom, Journalist, Meinungsmacher?

Ich bin nur ein kleiner Teil der Agenda Austria. Wir sind ein unabhängiger Thinktank, der ungefragt marktwirtschaftliche Lösungen für offensichtliche Probleme vorschlägt. Und wir sind ein gewisser Störfall in Österreich, weil wir als einziges Institut kein Geld vom Staat bekommen und rein privat finanziert sind. Damit halten wir die Einflusssphären der Politik so klein wie möglich.

Wo sehen Sie die Unterschiede zum Momentum Institut, das sich ja auch als Gegenschuss zur Agenda Austria gegründet hat?

Erstens in unserer breit gestreuten Finanzierungsstruktur. Wir haben rund 80 Fördermitglieder, keiner trägt mehr als sieben Prozent des Gesamtbudgets. Momentum ist hingegen größtenteils Arbeiterkammer-finanziert. Wir lassen uns zweitens gerne an unseren Publikationen in wissenschaftlichen Journals messen. Da sind meine Kollegen gut aufgestellt.  Das von Ihnen erwähnte Institut hat da nicht viel vorzuweisen. 

Haben Sie je darüber nachgedacht, in die Politik zu gehen?

Nein.

 Franz Schellhorn im Gespräch mit Michael Hammerl (“Kurier“, 21.09.2024)

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