Pünktlich zu Beginn des Weltwirtschaftsforums in Davos hat sie auch in diesem Jahr ihre Studie über Wohlstand und Armut in der Welt veröffentlicht. Nicht nur der Zeitpunkt ist immer der gleiche, sondern auch der Befund: Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher (F.A.Z. vom 21. Januar).
Dabei hat Oxfam in einem Punkt recht: Das oberste Promille der Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren zu einem sagenhaften Reichtum gekommen. Aber statt aufzuklären, wie dieser unvorstellbare Wohlstand entstanden ist, zeichnet Oxfam ganz bewusst ein falsches Bild von den Zuständen der Welt. Es wird suggeriert, dass die Armen deshalb arm sind, weil die Reichen so reich sind. Oder umgekehrt: Sie sind so reich, weil die Armen so arm sind. Wörtlich heißt es: “Den Preis der Profite zahlen Milliarden von Menschen weltweit, die zu Löhnen, die nicht zum Leben reichen, schuften müssen und keinen Zugang zum öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen erhalten.”
Doch wird die Welt keineswegs immer ungerechter und schlechter. Der Anteil der Menschen, die weltweit in bitterster Armut leben, ist von mehr als 44 Prozent im Jahr 1981 auf unter zehn Prozent gesunken. Und das, obwohl im selben Zeitraum die Weltbevölkerung um fast zwei Drittel gewachsen ist. Was nichts daran ändert, dass noch immer zu viele Menschen arm und ohne Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben in Frieden und Wohlstand sind.
Und ja, noch immer haben zu viele Menschen keinen Zugang zum Gesundheitswesen. Die Durchimpfungsrate ist dennoch von wenigen Prozenten in den 1950er Jahren auf mittlerweile 86 Prozent der Weltbevölkerung gestiegen. Erlebten aber vor 200 Jahren noch 57 Prozent der Kinder ihren fünften Geburtstag nicht, sind es heute vier Prozent. Das sind vier Prozent zu viel, aber die Fortschritte sind beeindruckend und unübersehbar.
Oxfam blendet diese Entwicklungen aus und meldet den Zuwachs von zwei Milliardären pro Tag. Das stimmt. Aber jeden Tag schaffen auch 100000 Menschen den Weg aus der Armut. Aus Sicht von Nobelpreisträger Angus Deaton ist das der Globalisierung und den geöffneten Märkten zu verdanken. “Der Welt ist es insgesamt noch nie besser gegangen als heute, auch wenn sie sich derzeit in einer ziemlichen Unordnung präsentiert”, wie Deaton meint.
In einer ziemlichen Unordnung präsentiert sich nicht nur die Welt, sondern auch die Studie von Oxfam. Dort wird kritisiert, dass rund 20 Milliardäre so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Menschheit. Um auf diesen schockierenden Befund zu kommen, bedient sich Oxfam eines Taschenspielertricks. Sie vergleicht das Nettovermögen (Vermögen abzüglich der Schulden) der ärmeren Hälfte der Welt mit den reichsten Menschen aus der Forbes-Liste. Was Oxfam verheimlicht, ist, dass die Darstellung des Nettovermögens zu absurden Verwerfungen führt. So ist für Oxfam ein hervorragend verdienender Harvard-Absolvent, der noch einen Studentenkredit laufen hat, ärmer als ein mittelloser Bauer, der ein karges Leben in einem Entwicklungsland führt, aber weder Vermögen noch Schulden hat.
Während also viele Europäer und Nordamerikaner aufgrund ihrer Nettoverschuldung laut Oxfam zu den ärmsten zehn Prozent (!) zählen, trifft das in China nur auf wenige zu, weil sie kaum Schulden haben. Hat aber ein Durchschnittsverdiener 3700 Euro gespart, gehört dieser schon zur “bösen” reicheren Hälfte der Weltbevölkerung. Auch Oxfam selbst ist nach der von ihr definierten Methodik mit einem Jahresetat von einer Milliarde Euro und 400 Millionen auf der hohen Kante fast so reich wie 3,8 Milliarden Menschen oder die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung zusammen.
Das alles soll den schier unglaublichen Reichtum des obersten Promilles nicht kleinrechnen. Wir haben ein Verteilungsproblem, keine Frage. Die Armen sind aber nicht arm, weil Jeff Bezos so viele Amazon-Pakete versendet oder Bill Gates die neuesten Microsoft-Produkte aus den Händen gerissen werden. Die Armen sind arm, weil sie in von Krieg geplagten Ländern leben. In Staaten, deren korrupte Regierungen wenig von Menschen- und Eigentumsrechten halten und die falsche Wirtschaftspolitik betreiben. Jene Länder sind am ärmsten, die sich am wenigsten der Globalisierung geöffnet haben.
Will man den Armen helfen, braucht es nicht mehr Steuern, mehr Enteignung und mehr Regulierung. Es braucht mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Globalisierung, um mehr Menschen die Flucht aus der Armut und den Aufbau eines bescheidenen Vermögens zu ermöglichen. Genau darum sollte sich das alljährliche Oxfam-Spektakel eigentlich drehen. Aber mit derartigen “Botschaften” schafft es niemand auf die Titelseiten – und bringt es schon gar nicht zum Spendenmilliardär. Da hält man schon lieber an bewährten Ritualen fest.
Gastkommentar von Franz Schellhorn in der “F.A.Z.”, 22.1.2019
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