Um zu beleuchten, was ein Gasembargo gegen Russland wirtschaftlich für Österreich im Jahr 2022 bedeuten würde, betrachten wir daher drei Szenarien. Sie abstrahieren notwendigerweise von solchen Detailfragen, geben aber dennoch den Blick auf Größenordnungen frei. In allen drei Szenarien erfolgt die Abschaltung unmittelbar im Mai, was bedeutet, dass 58 Prozent des jährlichen Gasverbrauchs betroffen sind. Es ist wahrscheinlich, dass ein staatlicher Verteilungsmechanismus die Haushalte und den Energiesektor bevorzugt bedienen würde. Jedoch gibt es auch für die Bürger Anreize zum Energiesparen. Zum Beispiel über eine geringere Raumtemperatur, da die Gaspreise infolge des Embargos noch höher sein werden als jetzt.
Die größte Last wird aber die Industrie tragen müssen – und hier natürlich vor allem jene Sektoren, die jetzt am meisten Gas verbrauchen. Für die Unternehmen wird sich die Frage stellen, wie gut oder schlecht sie auf eine andere Energiequelle umsteigen können. Wo Erdgas als Vorprodukt verwendet wird, kann es gar nicht ersetzt werden. Das ist zum Beispiel bei der Herstellung von Ammoniak der Fall, der für die Düngemittelproduktion wichtig ist. Wird Gas dagegen lediglich als Energieträger genutzt, kann es theoretisch ersetzt werden. Allerdings würde das so gravierende Veränderungen an den Produktionsanlagen nach sich ziehen, dass die Ersetzbarkeit in vielen Fällen wohl nur graue Theorie bleibt. Eine Umstellung auf andere Energieträger wäre zudem in vielen Fällen so ineffizient, dass sie nicht in Betracht kommt. Die Unternehmen können also unterschiedlich elastisch auf ein Gasembargo reagieren. Wir unterstellen (in Anlehnung an die OeNB) für die gasintensivsten Sektoren eine Elastizität von 1. Das bedeutet: Kommt dort nur die Hälfte des Erdgases an, dann entfällt auch die Hälfte der dort erzeugten Wertschöpfung. Alle anderen Sektoren sind weniger elastisch; dort kann Gas eher ersetzt werden. Wir unterstellen (analog zur OeNB), dass sich die sektoralen Elastizitäten entsprechend ihrer Gasintensitäten staffeln. Für die Dienstleistungssektoren, die so gut wie kein Gas beziehen, ist die Elastizität nahe Null.
Schwer zu berechnen ist, wie stark sich weitere Abwärtsrisiken auf das Wirtschaftsgeschehen auswirken werden. In den folgenden Szenarien wird nicht berücksichtigt, dass bei einem Wegfall des russischen Gases auch der Gaspreis deutlich ansteigen würde. EcoAustria hat berechnet, dass die reale Wirtschaftsleistung 2022 um 1,3 Prozent einbrechen könnte, wenn der Gaspreis bis Ende des Jahres über 150 Euro je Megawattstunde bleibt. Dadurch würden 37.000 Arbeitsplätze wegfallen. [5] Außerdem ist davon auszugehen, dass sich die Probleme in den internationalen Lieferketten durch die jüngste Coronawelle in China noch einmal verschärfen werden. Auch eine weitere Eskalation des Ukrainekonflikts ist möglich.
In Anlehnung an die Pläne der Europäischen Kommission können kurzfristig zwei Drittel des Einbruchs kompensiert werden. Österreich verliert in diesem Szenario etwa 15 Prozent seiner gesamten Jahresmenge. Angenommen wird auch, dass die privaten Haushalte ihren jährlichen Gasverbrauch um rund zehn Prozent reduzieren, was zusätzlich Druck von der Industrie nimmt.
Am deutlichsten werden zunächst die Papierherstellung, der Bergbau und die chemische Industrie einbrechen. Auch andere Teile des produzierenden Gewerbes werden zwar stark in Mitleidenschaft gezogen, allerdings ist dieser Sektor in Österreich nicht sehr groß. Da die viel größeren Dienstleistungsbranchen so gut wie kein Gas verbrauchen, ist der Gesamteffekt für die österreichische Volkswirtschaft zunächst eher glimpflich.
Jedoch liefern die Dienstleister vielfach wichtige Vorleistungen für das produzierende Gewerbe. Wenn dort die Produktion stillsteht, bekommen auch bis dahin unbeteiligte Branchen ein Problem, da ihre Güter und Dienstleistungen nicht mehr nachgefragt werden. Wir berechnen derartige Zweitrundeneffekte mithilfe einer Input-Output- Analyse. [6] Der Rückgang der realen Wirtschaftsleistung wird insgesamt rund 1,5 Prozentpunkte betragen (siehe Abbildung 1), das entspricht einem Wert von 5,6 Milliarden Euro. 25.000 Arbeitsplätze könnten wegfallen.
Fazit: Selbst im optimistischen Szenario wird die österreichische Wirtschaft im Falle eines Gasembargos wohl bestenfalls stagnieren, wenn man die Abwärtsrisiken miteinbezieht. In Kombination mit der hohen Inflation liegt damit eine Stagflation vor.
Im mittleren Szenario wird angenommen, dass sich nur die Hälfte der russischen Gaslieferungen ersetzen lässt. Netto hat Österreich im Jahr 2022 damit um 25 Prozent weniger Gas zur Verfügung. Zudem reduzieren die privaten Haushalte ihren jährlichen Gasverbrauch nur um rund acht Prozent. Die Industrie muss also größere Lasten tragen, was zu einem größeren Wirtschaftseinbruch führt. Aus wirtschaftlicher Perspektive ist damit eine Haushaltseinsparung von nur acht statt zehn Prozent eine pessimistischere Einschätzung.
In diesem Szenario brechen etwa 0,8 Prozentpunkte der gesamten heimischen Wirtschaftsleistung direkt weg. Das entspricht 2,9 Milliarden Euro. Die Verteilung über die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren hinweg ist wiederum ähnlich wie bei der optimistischen Annahme. Insgesamt wird die reale Wirtschaftsleistung um 2,4 Prozentpunkte sinken, also um rund neun Milliarden Euro. Damit sind rund 40.000 Arbeitsplätze in Österreich bedroht. Abbildung 2 zeigt die Sektoren, die am stärksten betroffen sind. Abbildung 3 veranschaulicht außerdem, wie sich der Gesamteffekt aus Erst- und Zweitrundeneffekten zusammensetzt.
Viele Industriesektoren sind sowohl direkt als auch durch Zweitrundeneffekte sehr stark betroffen. In der chemischen Industrie kommt es zu Produktionsausfällen. Deshalb verzeichnen auch andere Unternehmen derselben Branche Auftragseinbußen. Die meisten Dienstleistungsunternehmen spüren dagegen so gut wie keine direkten Effekte. Die wegbrechende Nachfrage aus der Industrie wirkt sich aber auch auf die Dienstleister aus. Stark betroffen ist zum Beispiel der Handel, der als Dienstleistungssektor zwar kaum am Gas hängt, durch den Einbruch in der Industrie aber stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn die Bestellungen dort ausbleiben, dann werden auch die dazugehörigen Handelsdienstleistungen nicht mehr gebraucht. Vor allem im Großhandel summieren sich diese Effekte auf. Es gilt in diesem Szenario die gleiche Risikolage wie für den optimistischen Fall. Mit den genannten Abwärtsfaktoren rutscht Österreich in eine Rezession.
Im schlechtesten Fall gehen wir in Anlehnung an eine Berechnung aus Deutschland [7] davon aus, dass nur rund fünf Prozent des Gasausfalls ersetzt werden können. Außerdem nehmen die privaten Haushalte keinerlei Einsparungen vor. Österreich muss auf rund 40 Prozent der gesamten Gasmenge verzichten. In diesem Szenario trifft das Embargo die Industrie mit voller Wucht. Insgesamt bricht die Wirtschaft um rund 4,5 Prozentpunkte ein, was 16,9 Milliarden Euro entspricht und fast 80.000 Menschen arbeitslos macht. In Österreich herrscht Rezession.
Welches der drei Szenarien am wahrscheinlichsten ist, lässt sich derzeit nicht sagen. Die Ränder – gerade das optimistische Szenario – scheinen derzeit aber am unwahrscheinlichsten. Wie schlimm es am Ende kommen würde, hängt entscheidend davon ab, wie viel russisches Gas ersetzt werden kann. Die Haushalte sind für knapp 20 Prozent des österreichischen Gasverbrauchs verantwortlich. Der Rest entfällt auf wirtschaftliche Nutzung. Gleichzeitig stammen aber 80 Prozent des in Österreich verbrauchten Gases aus Russland. Diese 80 Prozent bestmöglich zu ersetzen, ist also ein deutlich größerer Hebel als etwas aus dem Haushaltsverbrauch für den industriellen Gebrauch freizusetzen. Zumal die Haushalte gesetzlich als Konsumenten besonders geschützt sind und in erster Linie über höhere Preise zu einem geringeren Gasverbrauch gebracht werden könnten.
Fußnoten
Ein Gasembargo der EU wäre eine der schärfsten Waffen, um Russland in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine etwas entgegenzusetzen. Doch leider haben sich die EU-Staaten in den letzten Jahrzehnten derart von russischem Gas abhängig gemacht, dass der Schuss nach hinten losgehen könnte. Welche wirtschaftlichen Konsequenzen müsste Österreich be
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