In Krisenzeiten sinkt die Gefahr, zu verarmen. Verrückt, oder?
- 18.04.2024
- Lesezeit ca. 4 min
Die Gefahr, in die Armut abzurutschen, ist in Österreich höher als in Tschechien, Ungarn oder Slowenien. Wie das möglich ist? Mit einem hilfreichen statistischen Trick.
Gegen die Armut anzukämpfen ist kein einfacher Job, schon gar nicht in Österreich. Was immer sozial engagierte Politiker auch tun, wie viel Geld sie im Namen der Steuerzahler auch locker machen, der Armut ist einfach nicht beizukommen. Ganz im Gegenteil, wie die vielen Hilfsorganisationen nicht müde werden zu betonen: Österreich werde immer ärmer, die Lage für eine wachsende Zahl von Menschen immer aussichtsloser, selbst das Zubereiten einer „woamen Moizeit“ (© Andreas Babler) pro Tag sei für viele zur unüberwindbaren Hürde geworden. Nicht der bescheidenen Kochkünste wegen, sondern weil es am nötigen Geld fehlt. Dramatische Befunde wie diese verstärken eine Erkenntnis, die heute bei jeder Tischgesellschaft als unumstößliche Wahrheit zu hören ist: Die Armen werden immer ärmer.
Das ist ja auch das, was die Bevölkerung in einer Dauerschleife zu hören bekommt. Obwohl alle Statistiken in die Gegenrichtung zeigen. So auch der aktuelle Sozialbericht, der diese Woche von Sozialminister Johannes Rauch vorgestellt wurde. Dem grünen Minister zufolge sei es zwar nicht gelungen, die Armut zu halbieren, wie sich das die Regierung bei ihrem Amtsantritt vorgenommen hat. Aber immerhin konnte die Lage stabil gehalten werden – und das sei angesichts der vielen Krisen der jüngsten Zeit schon ein enormer Erfolg. Dem ist nicht zu widersprechen. Ungeachtet der Corona- und der darauffolgenden Teuerungskrise liegt die Zahl der Armen mit knapp 201.000 Menschen sogar noch etwas niedriger als vor der Pandemie. Der österreichische Sozialstaat ist deutlich besser als sein Ruf.
Erfolge in der Armutsbekämpfung will aber niemand an die große Glocke hängen, schon gar nicht der Sozialminister oder eine der vielen Hilfsorganisationen. Es könnte ja jemand auf die blöde Idee kommen, dass es keine neuen staatlichen Leistungen mehr braucht. Deshalb wird weiter gewarnt und dramatisiert. Wie das geht? Indem man sich eines kleinen, nicht ganz sauberen Tricks aus der Statistik bedient: Man berechnet nicht nur die Zahl der Armen, sondern auch jene der „Armutsgefährdeten“. Diese Messgröße ist für linke Politiker gleichermaßen eine Art Gottesgeschenk wie für Caritas, Volkshilfe & Co., hat sie doch einen unbezahlbaren Vorteil: Unabhängig von der wirtschaftlichen Verfasstheit eines Landes wirft sie verlässlich einen schockierend hohen Wert aus.
Armutsgefährdet ist nämlich, wer nach Steuern und Sozialtransfers weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Und das sind immerhin 1,3 Millionen Menschen in diesem Land. Was aber niemand dazusagt: Steigt der Wohlstand, steigt auch die Schwelle, ab der die Bürger Gefahr laufen, in die Armut abzurutschen. Um die Sache etwas überspitzt zu illustrieren: Würde Onkel Dagobert jedem Haushalt einen mit 500.000 Euro gefüllten Geldkoffer vor die Türe stellen, wären noch immer 1,3 Millionen Österreicher armutsgefährdet, weil sie noch immer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Wie verzerrend diese Bezugsgröße ist, zeigt auch, dass laut Statistik so gut wie alle Studenten armutsgefährdet sind. Nicht zuletzt jene, die Dank wohlhabender Eltern in der eigenen Wohnung „hausen“ und einen einkommensschwachen Haushalt begründen. Eine vierköpfige Familie, die in einer abbezahlten Eigentumswohnung lebt, aber weniger als 2924 Euro netto im Monat zur Verfügung hat, gilt ebenfalls als armutsgefährdet.
Wer die Armutsgefährdung reduzieren will, muss auf eine saftige wirtschaftliche Krise hoffen, wie Irland zeigte. Dort ist die Zahl der Armutsgefährdeten während der Finanzkrise gesunken. Gerade weil das Land wirtschaftlich schwer getroffen wurde: Viele Menschen haben ihren Job verloren, hohe und mittlere Einkommen gingen stärker zurück als niedrige. Statistisch am besten getroffen hatten es jene Bürger, die bereits arbeitslos waren und vom Staat alimentiert wurden; ihr Einkommen blieb gleich hoch. Das umgekehrte Phänomen ist in Zeiten der Hochkonjunktur zu beobachten: Steigen die Löhne und Gehälter besonders stark an, wächst die Zahl der Armutsgefährdeten, auch wenn niemand weniger Geld hat als vorher. Statistisch gesehen ist die Gefahr zu verarmen in Slowenien, Tschechien und Ungarn niedriger als im deutlich wohlhabenderen Österreich. Verrückt, nicht? Aber wie gesagt: Gegen die Armut anzukämpfen ist kein leichter Job, schon gar nicht in Österreich.
Kolumne von Franz Schellhorn in der “Presse” (13.04.2024)
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