Bildung

Erbschaftssteuer auf den Doktortitel?

In Österreich wird gerne über den niedrigen Anteil von Arbeiterkindern an den Hochschulen geklagt. Das wahre Bildungsdrama wird hingegen konsequent ignoriert. – Kommentar von Franz Schellhorn

Der Befund dreht sich seit Jahren im Kreis: Österreich gibt überdurchschnittlich viel Steuergeld für Bildung aus, die Leistungen der Schüler bei internationalen Vergleichstests sind hingegen höchst durchschnittlich. Hinzu kommt, dass hierzulande noch immer das Elternhaus über den Bildungsstand der Kinder entscheidet, wie Medien immer wieder beklagen. „Bildung wird in Österreich überdurchschnittlich vererbt“, hieß es vergangene Woche etwa im „Standard“. Hinter Schlagzeilen wie diesen steht der aktuelle Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Österreich einmal mehr als Land der fehlenden Aufstiegschancen kritisiert.

Aber wie ist es möglich, dass in einem gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat Bildung noch immer vererbt wird? In einem Land, in dem es kein Schulgeld gibt, der Zugang zu den Hochschulen seit Jahrzehnten frei und das Studium weitgehend kostenlos ist? Eine Erklärung findet sich in der Messmethode der OECD, für die es auf der Bildungsleiter nur drei Sprossen gibt: Ganz unten den Pflichtschulabschluss, ganz oben den Hochschulabschluss und auf der mittleren Stufe alles, was dazwischen liegt. Das hat zur Folge, dass etwa ein Kind mit HTL-Matura für die OECD auch dann keinen Bildungsaufstieg geschafft hat, wenn die Eltern nur einen Lehrabschluss in der Tasche haben.

Womit klar ist, dass die Bildungsmobilität in Österreich krass unterschätzt wird. Der Anteil der Bildungsaufsteiger liegt nicht, wie von der OECD angegeben, bei 29 Prozent, sondern in der Gegend von 40 Prozent. Damit läge Österreich auf Tuchfühlung mit den Spitzenländern. Zudem haben mehr als die Hälfte der Studierenden hierzulande Eltern ohne Universitätsabschluss. Auch das ist ein internationaler Spitzenwert.

Das heißt nicht, dass alles in Ordnung wäre.

Das wahre Bildungsdrama spielt sich nicht in den Gymnasien und an den Hochschulen ab, sondern in den Volksschulen und Kindergärten. Viele Kinder in diesem Land haben nämlich keine Chance auf ein eigenständiges Leben, geschweige denn auf einen Hochschulabschluss. Weil sie in ein Elternhaus hineingeboren wurden, in dem Bildung keine große Rolle spielt. Weil sie in einem Umfeld aufwachsen, in dem kaum Deutsch gesprochen wird. Und weil sie von einem öffentlichen Bildungssystem aus rein polittaktischen Gründen im Stich gelassen werden.

Die Wiener Lehrerin Susanne Wiesinger gibt in ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ erschütternde Einblicke in die tägliche Klassenrealität. Wiesinger zählt sich selbst zum linken Flügel der SPÖ, sie unterrichtet seit einem Vierteljahrhundert in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk, der ihrer Ansicht nach fast nur noch aus Brennpunktschulen besteht. Mit 202.000 Einwohnern ist Favoriten gleich groß wie Linz. „Der Großteil der Schüler spricht kaum Deutsch, will eigentlich nichts lernen und hat kaum Hobbys. Dafür werden diese Schüler schnell aggressiv und wütend, sobald etwas mit dem Islam nicht im Einklang zu sein scheint“, wie Wiesinger schreibt. Der offizielle Lehrplan sei nicht mehr einzuhalten, das Leistungsniveau zum Teil auf Sonderschulniveau gesunken. Es gelte die Maxime, so viele Kinder wie möglich in die nächste Klasse aufsteigen zu lassen, damit die Öffentlichkeit die dramatische Situation nicht mitbekomme.

London hatte vor 20 Jahren mit ähnlich gelagerten Problemen zu kämpfen. „In den Schulen herrschte Disziplinlosigkeit, desillusionierte und ausgebrannte Lehrer fanden sich einer unmotivierten Schülerschaft gegenüber, in den sogenannten Brennpunktschulen schaffte eine Mehrheit der Schulabgänger am Ende der Schulpflicht die Mindestqualifikationen nicht“, wie die Bildungsexpertin Heidi Schrodt unlängst in einem Gastkommentar in der „Presse“ schrieb.

Was London von Wien unterscheidet.

Unter der Kanzlerschaft von Tony Blair hat die Politik dem Treiben mit der „London Challenge“ ein Ende gesetzt. Die Problemschulen bekamen nicht nur mehr Geld, sondern auch eine echte Chance, besser zu werden. Nützten sie diese nicht, mussten Schulen mit der Schließung, Direktoren und Lehrer mit der Entlassung rechnen. Den Schulen wurden professionelle Berater zur Seite gestellt, die einen Entwicklungsplan aufstellten. Direktoren konnten sich die Lehrer aussuchen, die schlechteren also auch kündigen. Anhand der transparenten Daten über die Leistungen der Schüler konnten Problemschulen andere Schulen mit ähnlichen Schülerpopulationen, aber besseren Ergebnissen in einzelnen Unterrichtsgegenständen, ausfindig machen und von diesen lernen. Binnen fünf Jahren waren deutliche Fortschritte zu erkennen, heute zählen die Londoner Schulen zu den besten des Landes, obwohl das Programm längst ausgelaufen ist.

Österreich könnte von London lernen und zudem den frühkindlichen Deutschunterricht in den Kindergärten forcieren. Stattdessen wird leidenschaftlich über den niedrigen Anteil von Arbeiterkindern an den Unis geklagt, die dafür ausschlaggebenden Gründe werden aber ignoriert. Womit Tausenden Schülern die Aussicht auf eine selbstbestimmte Zukunft geraubt wird – und sich der Befund weiter im Kreis dreht.

Kommentar von Franz Schellhorn im „profil“, 03.11.2018

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